No. 11 - Bewerkstelligen eines falschen, unwahren Konsenses
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Bedeutung (‚für sich‘)
Dient der Herstellung einer Pseudogemeinschaft.
Wird angewandt, um unliebsame, wenn auch relevante Ansichten auszuschließen „individuell wie kollektiv, in gesellschaftlichen Gruppen ebenso wie in politischen Systemen aller Couleur.“ Zielt darauf „Subjekte, Gruppen, Parteien, Meinungen, Interessen etc. aus dem Kreis des argumentativ Berücksichtigungs- und Beachtenswerten zu exkludieren, um den eigenen Interessen größere Zustimmungschancen zu verschaffen.“
(Zitate aus: Josef Kopperschmidt: Argumentationstheorie zur Einführung, Dresden 2000, S.77).
Im politischen Bereich kann man auch sagen: Ein Machtkartell schottet sich geistig nach Außen ab, indem mit Hilfe von Propaganda (siehe No.48) und Sonntagsreden (siehe No.32) Schönfärberei bzgl. der eigenen Position und (ungebührliche) Abwertung bzgl. der ‚gegnerischen‘ Position betrieben wird. (Gewichtige) Kritik wird nicht ernstgenommen und abgebügelt.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin) zeichnet sich vor allem durch systematische Kritikimmunität aus. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung.
1. Beispiel
Schulbuchverlag will einheitliches Deutschlandbild
<Aber es geht hier um Übereinstimmung, um eine einheitliche Darstellung, um ein einheitliches Deutschlandbild von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen. Hier sind die Schulbuchverleger außerordentlich interessiert, diese Dinge – mit Ihnen im Bündnis – zu erhalten und zu retten. Wir werden uns auch bemühen, diese Dinge in den Hansestädten Hamburg und Bremen zu einem Erfolg zu führen; wir sind da nicht ohne Hoffnung. Allerdings brauchen wir da auch die sehr starke Unterstützung von allen Parteien des Hauses, die sich glücklicherweise im KMK [Kultusministerkonferenz, M.A.]-Beschluss auch zusammengefunden haben. – Vielen Dank. (Beifall bei allen Fraktionen)>
(Dr. Schröder in: Zur Sache 2/81. Themen parlamentarischer Beratung. Deutsche Geschichte und politische Bildung. Öffentliche Anhörungen des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages 1981, Bonn 1981, S. 242)
2. Beispiel
Kein Platz für Kritik in der (offiziellen) Wochenzeitung „Das Parlament“
<Wenn in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Wochenzeitung „Das Parlament“ die von Walter Scheel in der Rede zur 25. Wiederkehr des 17. Juni 1953 erhobene Forderung: „Die Lehrer dieses Landes haben sich an die Verfassung zu halten, und die Landesregierungen haben die Pflicht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen“, wenn also dieses Zitat als Instrument zur Erzeugung von Angst, Konformitätsdruck und Denunziationsstimmung gebrandmarkt werden kann, ist die Grenze zwischen Liberalität und Libertinage überschritten, zumal der Autor als Professor für Erziehungswissenschaften tätig ist. Es bedarf wohl keines Hinweises auf die Folgen, wenn namentlich jüngere Lehrer auf solche Sätze in dieser weitverbreiteten offiziellen Zeitschrift stoßen, selbst wenn im Impressum auf die Unverbindlichkeit verwiesen wird.>
(Dr. Friese in: a.a.O. Zur Sache 2/81, S. 193) [Siehe auch No. 12, 1.Beispiel, als Ergänzung].
3. Beispiel
Die Ausgrenzung der Partei AfD (Alternative für Deutschland)
aus dem öffiziösen, sozusagen ‚halbamtlichen‘ politischen Diskurs (vor allem nach 2015) erfüllt alle oben aufgeführten Kriterien des falschen, unwahren Konsenses:
- Herstellung einer Pseudogemeinschaft der Parteien CDU/CSU + SPD + Grüne + Linke + Liberale. Sie behaupten für sich, die Demokratie zu vertreten, während die AfD anti-demokratisch sei – und somit nicht zur Gemeinschaft der echten Demokraten gehöre. Auf diese Weise wird die AfD als ‚Außenseiterpartei‘ ausgegrenzt (siehe dazu No.16-als Außenseiter ausgrenzen). Sie ist somit das ‚Schwarze Schaf’ unter den parlamentarischen Parteien. Deshalb darf sie auch in keinem dt. Parlament einen stellvertretenden Parlamentspräsidenten stellen.
- Dies wird angewandt, um unliebsame, wenn auch relevante Ansichten als ‚indiskutabel‘ auszuschließen: Beispielsweise das Thema kriminelle Zuwanderer, das die AfD wiederholt aufs Tapet bringt (siehe No.47, Beispiel 1 - Curio vs. Merkel), ist unliebsam, wenn auch relevant. Die Thematik soll aus dem offiziösen öffentlichen Diskurs herausgehalten werden, indem die AfD als ‚rassistisch‘ denunziert wird. (Siehe dazu No.38 - Beispiel 3).
- Es handelt sich bei der Pseudogemeinschaft der ‚demokratischen‘ Parteien um ein relativ geschlossenes geistiges System, das sich vor allem durch systematische Kritikimmunität auszeichnet. Darunter fallen alle möglichen Versuche, gewisse politische Anschauungen jener Kartell-Parteien (vor allem bzgl. unkontrollierter Einwanderung) nicht der Widerlegung auszusetzen, d.h. sie gegen unvoreingenommene, kritische Überprüfung, gegen rationale Einwände abzuschirmen (zu immunisieren). Deshalb muss die AfD, als die entscheidende diesbezüglich kritische Kraft, ausgegrenzt werden. Ihre Argumente als Argumente zählen nicht; selbst schlüssige Argumente werde als ‚Hetze‘, ‚Hassreden‘, ‚Populismus‘, ‚Ablenkung‘ usw. angesehen. (Es handelt sich hier übrigens um die Fallacy des direkten ad hominem). – Speziell im Bundestag ist vielfaches ignorantes Abschalten der Abgeordneten der Kartell-Parteien angesagt, wenn ein Redner oder eine Rednerin der AfD am Mikrofon steht. Siehe No.43, Beispiel 3 mit Bild von Alice Weidel und sodann ein Bild von der Fraktion der Grünen.
- Tatsächlich bedeutet das nichts anderes als: Ein Machtkartell schottet sich geistig nach Außen ab, indem mit Hilfe von Propaganda (No.48) und Sonntagsreden (No.32) Schönfärberei bzgl. der eigenen Position und ungebührliche Abwertung bzgl. der ‚gegnerischen‘ Position betrieben wird. Gewichtige, argumentativ vorgetragene Kritik wird nicht ernstgenommen, schlicht ignoriert oder abgebügelt; z.B. No.47, 1. Beispiel Bundeskanzlerin Merkels TTT-Verhalten bei der Anfrage von Dr. Curio (AfD).
In einer speziellen Sonntagsrede bei der 17. Bundesversammlung (Wahl des Bundespräsidenten Steinmeier Sonntag, 13. Februar 2022) wird bei der Eröffnung als Ich-Botschaft („ich wünsche mir“) allerdings folgendes vorgetragen:
„Der parlamentarische Alltag dagegen braucht die Debatte und auch den Widerspruch. Bevor Entscheidungen fallen, müssen Argumente ausgetauscht, Alternativen diskutiert, Kompromisse ausgehandelt werden. (…) Ich wünsche mir eine zivilisierte Auseinandersetzung und einen respektvollen Umgang miteinander. Wir merken doch, dass Anschuldigungen nichts bringen. (…) Aber wer sich selbst ein eigenes Recht schafft, das Recht auf die alleinige Wahrheit, der setzt sich ins Unrecht. (…) Der Andere kann auch Recht haben. (…) Die aktuelle Zuspitzung in den Debatten zeigt mir: wir brauchen eine größere Offenheit. Die Mehrheit hat nicht automatisch recht, die Minderheit aber auch nicht. Alle müssen sich bewegen, aufeinander zugehn. Wer Gegenpositionen einfach abtut, macht es sich zu leicht. Niemand ist im Besitz der einzig richtigen Lösung. Wir sollten den Wettbewerb der Argumente zulassen und den Bürgerinnen und Bürgern noch mehr zuhörn. Das kann die Debatte in der parlamentarischen Demokratie nur bereichern. (…) Die Demokratie lebt nicht aus sich heraus, oder weil sie auf dem Papier steht, sie lebt vom Gemeinsinn und Offenheit. (…) Auch Kritik ist notwendig und sinnvoll, wenn sie konstruktiv ist.“ (Aus: 17. Bundesversammlung Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Eröffnung.
Quelle: YouTube Film der AfD mit dem Titel: <LIVE: wahl des bundespräsidenten - afd-fraktion im bundestag>. Zwischen 12:10 min und 15:30 min).
(Hinweis: Vgl. zum Thema ‚Sonntagsreden‘ No.32).
4. Beispiel
Im Zusammenhang mit der Invasion Russlands in der Ukraine, 24. Februar 2022
schreibt ein Leser in dem in voller Uniform zum Kriegsdienst eingerückten SPIEGEL:
„Ich kann nur hoffen, dass Sie spätestens jetzt diese dümmlichen Leserreaktionen nicht mehr abdrucken, in denen dem Westen eine Mitschuld an der heutigen Situation gegeben wird.“ [Quelle: Leserbrief im Magazin DER SPIEGEL, Nr.10, 5.3.22, S. 128]
Hat Verwandschaft mit No.41 - Beispiel 3: Feindbilder zwischen Staaten produzieren.
5. Beispiel
Kubicky macht sich unbeliebt beim „politischen Berlin“
Im ‚Gießener Anzeiger‘ vom 25. August 2022 gibt es auf S. 2 einen Artikel von Birgit Marschall mit der Überschrift: „Kopfschütteln über Wolfgang Kubicki. Gas-Pipeline Nord Stream 2: FDP-Vize löst Unbehagen auch bei den Liberalen aus / Dabei geht es um die Regierungsraison“.
Kubicki ist nicht nur FDP-Vize sondern auch Vize-Bundestagspräsident. Gemäß des Zeitungartikels „schert“ er „gerne mal aus der Koalitionsdisziplin aus“. D.h. die FDP ist seit Ende 2021 in der Regierungskoalition unter Bundeskanzler Scholz (SPD). Zur Koalition gehören außerdem noch die Grünen. Nun weiter unten im Artikel: <Doch vergangene Woche ist Kubicky über das Ziel hinausgeschossen. „Wir sollten Nord Stream 2 jetzt schleunigst öffnen, um unsere Gasspeicher für den Winter zu füllen“, sagte er in einem Interview und erregte damit überdurchschnittlich viel Aufsehen. Es gebe „keinen vernünftigen Grund, Nord Stream 2 nicht zu öffnen“. Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin dann doch nicht mehr Gas liefere, habe Deutschland nichts verloren. „Kommt auf diesem Weg mehr Gas bei uns an, vielleicht sogar die komplette vertraglich zugesicherte Menge, wird das helfen, dass Menschen im Winter nicht frieren müssen und unsere Industrie nicht schweren Schaden nimmt“, betonte Kubicky. Dafür zu sorgen, sei oberste Pflicht der Bundesregierung.>
Neue Überschrift im Artikel: „Populistisches Manöver“. Und dann weiter im Text: <Die komplette FDP-Spitze unter Parteichef Christian Lindner bemühte sich am selben Tag, das Thema wieder einzufangen, Kubickis Äußerung als Einzelmeinung hinzustellen. Kubicky, immerhin Stellvertreter Lindners in der Partei, stellte nämlich eine Regierungsräson infrage, was gefährlich ist, weil Kubickys Meinung dazu in der Bevölkerung leicht verfangen könnte. Neben ihm hatte auch Alt-Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder (SPD) die Option Nord Stream 2 ins Spiel gebracht. Die beiden Herren könnten damit Populisten und Extremisten in die Hände spielen, die derzeit gegen hohe Gaspreise und indirekt auch gegen die deutsche Haltung im Ukraine-Krieg mobilmachen. (…) Bei SPD und Grünen gab es daher fassungsloses Kopfschütteln, wie in Berlin zu hören war. Auch in seiner eigenen Partei war das Unbehagen über Kubickys populistisches Manöver dieses Mal größer als sonst. Der stets nach öffentlicher Aufmerksamkeit strebende FDP-Mann werde im politischen Berlin kaum noch ernst genommen, hieß es zudem aus der Union.>
Das ist ja ein Bericht wie aus dem Bilderbuch zu dem Thema falscher bzw. unwahrer Konsens im Rahmen einer Pseudogemeinschaft Hier wird sich nicht seitens des „politischen Berlins“ (also offenbar der ‚inneren Partei‘ [siehe No.37] des dt. Polit-Establishments) mit den durchaus äußerst relevanten Argumenten Kubickys auseinandergesetzt, sondern stattdessen die Ausgrenzungskarte (siehe No.16) gezogen. Dazu dient – wie so oft in den letzten Jahren - die Populismus-Keule (siehe dazu No.16, Beispiel 4) und das gute alte Argumentum ad hominem wonach die Sache ihr einfaches Abwinken hat, da Kubicky (lediglich) der „stets nach öffentlicher Aufmerksamkeit strebende FDP-Mann“ ist. (Siehe dazu das Befangenheits-ad-hominem, desweiteren auch No.16, Beispiel 6, Variante ad hominem circumstantial). Dann die äußerst demokratische Argumentation der Insider: Die Menschen (‚draußen im Land‘) könnten – wenn die absehbare (von dem „politischen Berlin“ verursachte) Krise über sie hereinbricht – in die Rattenfänger-Arme von „Populisten“ und „Extremisten“ getrieben werden und Kubicky wäre zusammen mit Gerhard Schröder mit daran schuld. Wobei für mich die Frage im Raum steht, ob es dann nicht geradezu mit zur Definition von ‚Populist‘ und ‚Extremist‘ gehört, dass jemand analog wie Schröder und Kubicky argumentiert. – Dann wäre es kein Wunder, dass sowohl Schröder als auch jetzt zu allem Überdruss Kubicky „im politischen Berlin kaum noch ernst genommen“ werden.
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No. 12 – Totschlagsargumente: Mit moralischer Begründung kritische oder unliebsame Ansichten zum Schweigen verurteilen
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(Es handelt sich hier um die schwere Form der Totschlags-Argumente. Die leichte Form nennt sich „Killerphrase“ und wird in N0. 17 dargestellt.)
Bedeutung (‚für sich‘)
Dienen dazu, Kritiker bzw. unliebsame Ideen mundtot zu machen oder sie zu ignorieren und das freie Denken zu unterbinden. Hat die Funktion, den falschen Konsens herzustellen. (Siehe N0.11)
Malte W. Egger beschreibt ‚Totschlagargumente’ folgendermaßen: „Charakteristisch an Totschlagargumenten ist, dass zunächst eine Überzeugung formuliert wird, die mit dem Anspruch auftritt, dass man sie unbedingt akzeptieren muss und dass sich ihr niemand entziehen kann. Ein Bezweifeln dieser Überzeugung käme einem Tabubruch gleich. Die Unterstellung des Totschlagarguments lautet dann, dass der Diskussionsgegner genau diese Überzeugung bezweifelt und damit den Tabubruch begeht. Das löst Empörung aus und diskreditiert den Diskussionsgegner. Diskussion zu Ende, Gesprächspartner tot.“ (Malte W. Egger: Kritisch argumentieren. Aschaffenburg 2006, S. 159)
Es sollte noch ergänzt werden: diese Art Argumentation benutzt als Hauptkraft einen moralischen Anspruch.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Es handelt sich auch hier wieder, wie bei No.11, um das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin). Es zeichnet sich vor allem durch systematische Kritikimmunität aus. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung.
1. Beispiel
Die moralische Begründung ist der Anspruch an die Lehrer, die Verfassung hochzuhalten. Siehe in No. 11, Beispiel 2:
Jemand (erst recht ein Professor für Erziehungswissenschaften als offiziöser Beamter) der (vermutlich) die Methoden, mit denen dieser Anspruch seitens der Kultusministerien durchgesetzt werden soll „als Instrument zur Erzeugung von Angst, Konformitätsdruck und Denunziationsstimmung“ kritisiert, soll zum Schweigen verurteilt werden. Vor allem darf ihm eine „offizielle Zeitschrift“ (des Parlaments) keine Veröffentlichung dieser Kritik erlauben.
2. Beispiel
Hitler spricht im Reichstag 23.3.33 (Ermächtigungsgesetz):
<Sie [gemeint ist der Abg. Wels von der SPD, der vor Hitler sprach; Anm.Verf.] sagen weiter, dass die Kritik heilsam sei. Gewiss, wer Deutschland liebt mag uns kritisieren, wer eine Internationale anbetet kann uns nicht kritisieren. [Lang anhaltender Beifall und Rufe].>
Die moralische Begründung ist hier ungefähr: Sozialdemokratische Internationalisten sind Verräter an Deutschland und somit moralischer Abschaum. Sie haben uns deswegen nichts zu sagen. Woraus dann folgt: ihnen braucht man gar nicht erst zuzuhören und am besten werden sie wegen Landesverrats verurteilt.
(Weitere Ausführungen finden sich in dem Aufsatz: „Haltlose Hitler-Argumentationen“ 2007)
3. Beispiel
Es geht um die Turnhallenbeschlagnahmung 2016 in Deutschland für die vielen neu zugewanderten Flüchtlinge.
Dazu schreibt Wolfgang Eilenberger im SPIEGEL.
<„Es gibt dazu keine Alternative“, heißt es vonseiten der Behörden, um von diesem zunächst rein funktionalen Hinweis sogleich auf moralische Widerspruchsprävention umzustellen. (…) „…sollen die Menschen etwa erfrieren?“
Nein, auch ich will nicht, dass Not leidende Menschen erfrieren. Weder hier noch anderswo. (…)
Als Philosoph besorgt mich im Zusammenhang zunächst eine Rechtfertigungsrhetorik, die von einer behaupteten „Alternativlosigkeit“ bruchlos zum „Sollen die etwa erfrieren?“ übergeht. Denn wer in dieser Weise vorgeht, hat nicht nur immer Recht, sondern findet auch kein rechtsstaatliches Maß mehr. Einmal verinnerlicht, lässt sich mit dieser Argumentationsweise faktisch jede Maßnahme und auch Beschlagnahmung legitimieren. Sie erstickt politische Klugheitsbedenken im Keim und verengt damit den Raum des eigentlich politischen Meinungsaustauschs.>
(Quelle: Wolfram Eilenberger: „Fördert Willkommenssport!“ – Essay: Die zwangsweise Umwandlung von Turnhallen in Flüchtlingsunterkünfte ist schlechte Integrationspolitik. – In: DER SPIEGEL, 2/2016, Seite 93. Eilenberger ist Chefredakteur des „Philosophie Magazins“.)
4. Beispiel
Das islamische Recht im Iran
<Eine hadd-Straftat wird in der Regel entweder durch ein zweimaliges Geständnis des Täters oder durch zwei männliche muslimische Zeugen bewiesen, die rechtschaffen sein müssen. Da das islamische Recht von jeher von diesem festen Beweiswert ausging, kam es stets darauf an, ob jemand als Zeuge zugelassen werden konnte. So entstand eine reich entwickelte Lehre vom einwandfreien Zeugen, die viele Beobachtungen der heutigen Zeugenpsychologie vorwegnahm. Rechtstechnisch wurde diese Lehre an das Erfordernis des “Cadil-Seins” (was rechtschaffen, gerecht, unbescholten bedeutet) gebunden. So ist z.B. das Zeugnis zugunsten enger Verwandter nicht zulässig. Auch das Erfordernis, daß Zeugen, zumindest in einem Prozeß gegen einen Muslim, selbst Muslime sein müssen, leitet sich von diesem Merkmal her. Wie soll man der Wahrheitsliebe eines Menschen trauen, der selbst so offensichtliche Wahrheiten wie den Islam leugnet?>
(Aus: Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM): „Die Wiedereinführung des islamischen Strafrechts im Iran“, S. 9)
5. Beispiel
Lanz vs. Guerot
(siehe No.49 - Beispiel 4)
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No. 13 - Unterstellung, d.h. falsche Bedeutungsunterlegung der eigentlichen Behauptung.
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Bedeutung (‚für sich‘)
Dient dazu, vom eigentlichen Thema abzulenken, um gewisse unliebsame oder gar ‚ungehörige‘ Ansichten vom Tisch zu wischen. Die Feststellung wird auf ein anderes Gebiet verschoben, wo sie quasi neutralisiert werden kann.
Es handelt sich um eine Abwehr-Reaktion gegenüber einer unbequemen Wahrheit und ist verwandt mit No. 2 „Datenverdünnung“.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Verstößt gegen die folgende Pragma-Dialektische Regel (3): Ein Widerlegungsversuch muss sich auf denjenigen Standpunkt beziehen, der tatsächlich von der Gegenpartei in der Diskussion geäußert worden ist.
1.Beispiel
Michael sagt seinem Freund Thomas, dass er es nicht gut findet,
wenn Thomas mit Yvonne ein sexuelles Verhältnis startet,
da sich dies wahrscheinlich verheerend auf die Beziehung von Yvonne mit Pico auswirken wird. - Thomas nimmt jedoch an: Michael sagt so was nur, weil er neidisch ist, weil er selber gerne mit Yvonne pennen würde. – Mit dieser falschen (jedenfalls ungeprüften, unbegründeten) Unterstellung enthebt Thomas sich der Beschäftigung mit der Frage, welche Folgen sein Tun hat und ob er das wirklich verantworten will.
[Hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ‘Whataboutismus’ (No.42) als Ablenkungsmanöfer vom eigentlichen Thema]
2. Beispiel
Ängstlichkeit vs. Besorgnis
Jemand ist besorgt oder hegt Bedenken. Eine falsche Bedeutungsunterlegung ist es, wenn das als ‚Angst‘ identifiziert wird. Denn ängstlich zu sein, ist prinzipiell was minderwertiges, feiges, worüber sich der Fälscher als mutig und stark erheben kann. Er kann den Ängstlichen bestenfalls noch ‚verständnisvoll‘ bemitleiden – aber nicht wirklich für voll nehmen. Dagegen besorgt zu sein, ist ein Gebrauch der Vernunft, mit dem sich der Fälscher auseinandersetzen müsste. Mit seiner Fälschung offenbart er sich allerdings als vernunft-unfähig bzw. –unwillig. Mit seiner falschen Bedeutungsunterlegung dünkt er sich erhaben und energisch. Dieses 2. Beispiel hat übrigens Verwandtschaft mit No.31, der Psychiatrisierungs-Argumentation. Desweiteren mit unten Beispiel 3: Schießen auf einen Pappkameraden.
Eine witzige Illustration findet sich in einem Spiegel-Interview mit dem linken Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow. (Spiegel 31/2015, S.24 „Campus für Asylbewerber“).
<Ramelow: Man muss zur Kenntnis nehmen, dass ausgerechnet dort, wo es kaum Ausländer gibt, die Angst vor ihnen am größten ist. Deswegen hilft es nicht, einfach nur Flüchtlinge in den Bus zu setzen und irgendwohin zu transportieren. Wenn man das Klima nicht beachtet, dann haben wir ganz schnell so etwas wie Freital oder Meißen – und das würde mir Sorgen machen.>
Also er, Ramelow darf sich Sorgen machen, die Bürger, die andere Arten von Sorgen haben, welche jedoch Ramelow nicht ins Konzept passen, dürfen lediglich Angst haben, brauchen also nicht wirklich ernst genommen zu werden.
[Kann man mit No.16 in Zusammenhang bringen: Als Außenseiter ausgrenzen.]
3. Beispiel
Eine wichtige Form von falscher Bedeutungsunterlegung kann man ansehen als
Schießen auf einen Pappkameraden, (engl. Straw Man Fallacy)
den jemand sich selber aufgestellt hat. Ein ‚Pappkamerad‘ ist im militärischen Bereich eine Pappfigur, die man für Schießübungen aufgestellt hat. Im OpenThesaurus Wiktionary heißt es als 3. Bedeutung: <übertragen: ein Element einer Diskussion; der Diskussionsführer attackiert ein Argument, das der Gegner gar nicht benutzt hat, sondern ein ähnlich klingendes; dieses fiktive Argument ist im Regelfall einfacher zu demontieren als das wirkliche.> So z.B. kann jemand die diversen Vertragsverletzungen bzgl. EU aufzählen – es wird jedoch im Gegenzug unterstellt, der/die Betreffende sei gegen das gemeinsame europäische Friedenswerk. Diesen willkürlichen Pappkameraden kann man sodann problemlos moralisch diskreditieren – und damit die Person, die das ursprüngliche Argument gebracht hat. (vgl. zur moralischen Diskreditierung No.12-Totschlagsargumente).
[Dieses EU-Beispiel hat eine Verwandschaft mit No.16: Als Außenseiter ausgrenzen.]
4. Beispiel
Jimmy Carter, der frühere Präsident der USA (1977-1981)
hatte 2006 ein Buch veröffentlicht, worüber es in der Wikipedia heißt: <Im Dezember 2006 entbrannte in den USA eine heftige, vor allem in den Medien ausgetragene Kontroverse um Carters neuestes Buch Palestine: Peace, not Apartheid, in dem er Israel die Hauptschuld für den ungelösten Palästinakonflikt gibt.> Dazu schrieb Noam Chomsky: „Man griff sein Buch wütend an und unternahm verzweifelte Versuche, irgendwelche Formulierungen darin zu finden, die man missverstehen konnte.“
(Quelle: Noam Chomsky: Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik, Ullstein, Berlin 2017, S. 41).
Die Methode, „verzweifelte Versuche“ zu unternehmen, „irgendwelche Formulierungen“ zu finden, „die man missverstehen“ kann, ist sicherlich nicht auf die USA beschränkt. Ich denke dabei an Höcke (Denkmal der Schande) und Gauland (Vogelschiss) von der offiziell missliebigen Partei AfD.
(YouTube bzgl. Gauland: Kein Schamgefühl: Alexander Gauland (AfD) über Hitlers Verbrechen an den Deutschen; bzgl. Höcke: Warum ist der Faschist Höcke die "Mitte der AfD"? – beides per Aufruf über Google.)
5. Beispiel
Pistorius vs. Vance
US-Vizepräsident J.D. Vance sprach am 14. Februar 2025 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. In seiner Rede kritisierte er die europäischen Verbündeten für die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Abweichung von gemeinsamen demokratischen Grundwerten. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat sodann gegen Vance Stellung bezogen auf dieser Konferenz. Im Folgenden bringe ich Auszüge aus der Rede von Vance und anschließend weitgehend die Stellungnahme von Pistorius zu dieser Rede.
Rede des US-Vize JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz 14. Februar 2025
ab 02:14
Die Bedrohung, die mir in Hinblick auf Europa die meisten Sorgen bereitet, ist nicht Russland, nicht China, es ist kein anderer externer Akteur; und was mir Sorgen macht ist die Bedrohung von Innen, der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegenden Werte, die mit den Vereinigten Staaten von Amerika geteilt werden. Nun ich war überrascht, dass ein ehemaliger EU-Kommissar kürzlich im Fernsehen auftrat und begeistert klang, dass die rumänische Regierung gerade eine ganze Wahl annulliert hatte. Er warnte, dass wenn die Dinge nicht nach Plan laufen, dasselbe auch in Deutschland passieren könnte. Diese unbekümmerten Aussagen sind für amerikanische Ohren schockierend. Jahrelang wurde uns gesagt, dass alles was wir finanzieren und unterstützen im Namen unserer gemeinsamen demokratischen Werte geschieht. Alles von unserer Ukrainepolitik bis zur digitalen Zensur wird als Verteidigung der Demokratie dargestellt. Aber wenn wir sehen, dass europäische Gerichte Wahlen annullieren und hochrangige Beamte damit drohen, andere abzusagen, müssen wir uns fragen, ob wir uns an einen angemessen hohen Standard halten. Und ich sage „uns“, weil ich fundamental glaube, dass wir im selben Team sind. Wir müssen mehr tun, als nur über demokratische Werte zu sprechen, wir müssen sie leben.
[Ab 03:36 einige Ausführungen über den früheren ‚Kalten Krieg‘ und dass die „tyrannischen Kräfte auf diesem Kontinent“ den Kalten Krieg verloren haben „weil sie die außergewöhnlichen Segnungen der Freiheit weder schätzten noch respektierten“.]
Sodann ab 4:28
Und leider, wenn ich Europa heute ansehe, ist es manchmal nicht so klar, was mit einigen der Gewinner des Kalten Krieges passiert ist. Ich schaue nach Brüssel, wo EU-Kommissare Bürgern ankündigen, dass sie beabsichtigen soziale Medien in Zeiten von zivilen Unruhen abzuschalten, sobald sie das, als: Zitat: „hasserfüllten Inhalt“, beurteilt haben. Oder [ich schaue] in dieses Land, wo die Polizei Razzien gegen Bürger durchgeführt hat, die verdächtigt werden, antifeministische Kommentare online gepostet zu haben im Rahmen eines sogenannten Aktionstags zur Bekämpfung von Frauenfeindlichkeit im Internet. Ich schaue nach Schweden, wo vor zwei Wochen die Regierung einen christlichen Aktivisten verurteilt hat, weil er an Koranverbrennungen teilgenommen hat, die zur Ermordung seines Freundes führten. Und wie der Richter in seinem Fall erschreckend feststellte, gewähren Schwedens Gesetze zum vermeintlichen Schutz der freien Meinungsäußerung tatsächlich keine, ich zitiere: „Freikarte, um alles zu tun oder zu sagen, ohne die Gruppe zu beleidigen, die diesen Glauben hat“. Und vielleicht am Beunruhigsten blicke ich auf unsere sehr lieben Freunde, das Vereinigte Königreich, wo der Rückschritt von den Gewissensrechten die grundlegenden Freiheiten, insbesondere religöser Briten ins Visier genommen hat.
[Ab 05:46 bringt Vance das Beispiel eines britischen Abtreibungsgegners Adam Smith Connor.]
Fortsetzung 07:19
In Großbritannien und in ganz Europa befürchte ich, ist die Meinungsfreiheit auf dem Rückzug.
[Er geht jetzt darauf ein, dass die vorherige US-Regierung manchmal zu den lautesten Stimmen für Zensur gehörte. Vance kommt dann ab 08:04 zu einem „Angebot“:]
… und genauso wie die beiden Administrationen verzweifelt schienen, Menschen zum Schweigen zu bringen, die ihre Meinung äußerten, wird die Trump-Administration genau das Gegenteil tun und ich hoffe, dass wir dabei zusammenarbeiten können.
[Vance geht dann auf die Annullierung der Präsidentschaftswahl in Rumänien ein, und setzt fort bei 09:28]
… Die gute Nachricht ist, dass ich denke, dass eure Demokratien wesentlich weniger zerbrechlich sind als viele anscheinend befürchten und ich glaube wirklich, dass es sie noch stärker machen wird, wenn wir unseren Bürgern erlauben, ihre Meinung zu äußern [09:44].
[Vance geht dann darauf ein, dass gewisse Gruppen von der Teilnahme an Gesprächen bei dieser Konferenz in München ausgeschlossen wurden.]
Fortsetzung 09:58
Wir müssen nicht allem oder irgendetwas zustimmen, was Leute sagen, aber wenn Menschen eine wichtige Wählerschaft vertreten, wenn politische Führer eine wichtige Wählerschaft vertreten, obliegt es uns, zumindest den Dialog mit ihnen zu führen. Nun, für viele von uns auf der anderen Seite des Atlantiks, wirkt es immer mehr wie alte festgefahrene Interessen, verstecken sich hinter hässlichen Wörtern aus der Sowjetzeit wie ‚Fehlinformation‘ und ‚Desinformation‘, die einfach nicht mögen, dass jemand mit einem alternativen Standpunkt eine ander Meinung äußern könnte, oder - Gott bewahre – anders abstimmt, oder sogar - noch schlimmer - eine Wahl gewinnt. [10:40]
[In diesem Sinne, als Plädoyer für Demokratie in Taten, hält Vance seine Rede bis zum Ende. 19:03]
Quelle: Rede des US-Vize JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz hier komplett auf Deutsch!.mp4
https://www.youtube.com/watch?v=-BKjAquaCE0&t=13s
[Leider nicht mehr verfügbar bei YouTube]
Und nun die Stellungnahme von Pistorius:
BR 24 – Pistorius vs. Vance
00:17
… Ich bin überzeugter Transatlantiker, leidenschaftlicher Transatlantiker, ein großer Freund Amerikas. Der American Dream hat mich schon früh fasziniert und geprägt. Und gerade deswegen kann ich nicht zur Tagesordnung gehen. Gerade deswegen kann ich die Rede, die wir vorhin vom US-Vice President gehört haben, nicht unkommentiert lassen. Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst. Das ist das Selbstverständnis der Bundeswehr und steht dafür auch für unsere Demokratie. Diese Demokratie wurde vom US Vizepräsidenten für ganz Europa vorhin infrage gestellt. Er spricht von Annulation of Democracy und wenn ich ihn richtig verstanden habe, vergleicht er Zustände in Teilen Europas mit denen in autoritären Regime (n). Meine Damen und Herren, das ist nicht akzeptabel! [anhaltender Beifall]. Und dass ist nicht das Europa, nicht die Demokratie in der ich lebe, und der ich gerade Wahlkampf mache. Und das ist nicht die Demokratie, die ich in unserem Parlament erlebe. In dieser Demokratie hat jede Meinung eine Stimme. Sie ermöglicht es in Teilen extremistischen Parteien wie der AfD ganz normal Wahlkampf zu machen. Genau wie jede andere Partei. Das ist Demokratie. [Applaus]. Denn hätte der Vizepräsident gestern Gelegenheit gehabt, bei Ankunft den Fernseher einzuschalten, hätte er eine Spitzenkandidatin dieser Partei zur Primetime im deutschen Fernsehen gesehen. In unseren Pressekonferenzen werden übrigens auch Medien zugelassen, die russische Propaganda verbreiten. Und die Vertreter der Bundesregierung müssen ihnen Rede und Antwort stehen. Ausgeschlossen wird niemand, nur weil er unser Wording nicht teilt. [Beifall]. Demokratie bedeutet aber nicht, dass die laute Minderheit automatisch recht hat und die Wahrheit bestimmt. Und Demokratie muss sich wehren können gegen die Extremisten, die sie zerstören wollen. [usw.]
In 02:46 hat Vance ein einziges Mal den Ausdruck „annulled“ gebraucht – und sonst nirgends (auch nicht annulation): „that the Rumanian government has just annulled the entire election“. Folglich hat Vance auch nicht von „Annulation of Democracy“ gesprochen, wie Pistorius behauptet. - Wenn der Teil Europas, in dem Pistorius lebt, tatsächlich; nach Ansicht von Vance, ein autoritäres Regime wäre, wie Pistorius unterstellt, hätte Vance wohl kaum auf diese Weise einen Vortrag in München gehalten. – Pistorius geht nirgends auf die Einzelheiten des Vortrags von Vance ein. Er stellt lediglich sein eigenes Narrativ dar.
In seiner Unterstellung der Annulierung der Demokratie bzw. von autoritärem Regime das Vance „in Teilen Europas“ angeblich behauptet, wozu wohl auch Deutschland gehören würde, ignoriert Pistorius völlig den folgenden Satz von Vance:
[09:28] Die gute Nachricht ist, dass ich denke, dass eure Demokratien wesentlich weniger zerbrechlich sind als viele anscheinend befürchten und ich glaube wirklich, dass es sie noch stärker machen wird, wenn wir unseren Bürgern erlauben, ihre Meinung zu äußern [09:44].
Somit ergibt sich, dass Pistorius mit seiner Antwort eine Art Neutralisierungs-Narrativ anwendet, das einerseits vollkommen an den Details der Vance-Rede vorbeigeht und andererseits mit seinen übertreibenden Unterstellungen (oben in fett) eine Abwertung der Kritik von Vance erreichen soll. Dafür allerdings erhält er ausgiebig Beifall bei dem Publikum dieser Münchener Konferenz, während der Beifall für die Rede von Vance relativ dünn ausfällt.
Als Militär hält sich Verteidigungsminister Pistorius an das obige Beispiel 3 „Schießen auf einen Pappkameraden“ – und das ist ihm offenbar vortrefflich gelungen, wie der Beifall des Publikums erweist.
Quelle: Boris Pistorius antwortet auf Vorwürfe von US-Vizepräsident Vance_.mp4
https://www.youtube.com/watch?v=Y8RTVnfb9Y8&t=1s
Vance vollständige Rede auf Englisch:
Full Speech_ JD Vance Shames Europe Leaders To Their Faces, Leaves Room Stunned_ Munich_ USA_ Trump.mp4
https://www.youtube.com/watch?v=IvheASRITtY&t=1s
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No. 14 - Orwell’sche Euphemismen - verdrehte Neuverwendung von positiven Begriffen
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Bedeutung (‚für sich‘)
Die positiv moralische Konnotation eines Begriffes soll mit was Amoralischen neu verbunden werden. Dadurch soll die klare, kritische Benennung dessen, worum es bei diesem Neuen eigentlich geht, verhindert werden. Des Weiteren soll die Illusion befördert werden, dass mit der Verwendung traditioneller, moralisch positiv geladener Begriffe, auch die traditionellen positiven Inhalte (irgendwie) mit beibehalten bzw. auf jenes Neue übertragen werden.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Die Objektivität der Darstellung wird durch ‚Schönfärberei‘ des Sachverhaltes verhindert, indem negative Aspekte weitgehend oder sogar systematisch ausgeblendet werden – ja sie sollen hier sogar in positive Aspekte verwandelt werden.
1. Beispiel
So spricht man
im Gefolge des neoliberalen Umbaus der deutschen Gesellschaft
seit den 90er Jahren von „Reformen“. Ein Begriff, der jahrzehntelang fest belegt war im Sinne von sozialen Verbesserungen für die Unterprivilegierten. Dieser Begriff wird nun ins genaue Gegenteil verkehrt, soll aber die vorherige (positiv-moralische) Konnotation des Begriffs weiterhin mit sich tragen - und womöglich die alte Begriffsbedeutung quasi ausmerzen
2.Beispiel
Die Berliner Mauer wurde in der DDR offiziell als „Antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet.
Die vorherige positiv-moralische Konnotation von „antifaschistisch“ sollte nun auf das Gebilde, das (zusammen mit den sonstigen Grenzbefestigungen) in ihrer Hauptfunktion eine gigantische Gefängnismauer für die gesamte Bevölkerung der DDR darstellte, übertragen werden. – Ganz konsequent euphemistisch argumentierte Honecker 1975 gegenüber AP: „Was Sie Mauer nennen, sind militärische Sperrgebiete…Soweit ich weiß, kann man militärische Sperrgebiete auch in den USA nicht ohne Erlaubnis betreten.“ (Bild, 25.08.1975
3.Beispiel
‚Volksdemokratie‘ als Steigerungsstufe der Verdrehung des Begriffs ‚Demokratie‘
<Wer eine Staatsform will, in der die Gewalt nicht vom Volk ausgeht und nicht nach bestimmten politischen Regeln an frei gewählte Repräsentanten delegiert wird und wer dennoch das Wort „Demokratie“ für diese Staatsform verwendet, der lügt. Wer zudem noch, um seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen, „Volksdemokratie“ sagt, lügt noch mehr.>
(Weinrich, H.: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1966, S. 35)
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No. 15 - Tabugrenzen bei Debatten errichten
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Bedeutung (‚für sich‘)
Damit werden die aller-Entscheidensten (weiterführenden, grundsätzlichsten) kritischen Fragen aus der Debatte ausgeblendet. Wird angewandt, um unliebsame, wenn auch relevante Ansichten auszuschließen.
Es wird somit ein geistiger Käfig errichtet. Denn jede solche Tabugrenze hat einen tiefer liegenden, ganz prinzipiellen Sinn; eine besondere Wichtigkeit für diejenigen, die sie aufstellen bzw. verteidigen, d.h. für ihre Einhaltung sorgen. Es ist ein Un-Thema (dieses Thema gibt es für uns hier nicht).
Die Bewerkstelligung des Tabus ist ein gruppendynamischer Vorgang wonach keiner gerne den Unmut der Versammlung auf sich lenken will, indem er auf Probleme (die das Tabu ausgrenzen will) innerhalb der Diskussion hinweist.
Ist eng verwandt mit No.11: Herstellen eines falschen Konsenses: Dient der Bildung einer Pseudogemeinschaft.
„individuell wie kollektiv, in gesellschaftlichen Gruppen ebenso wie in politischen Systemen aller Couleur.“ „Zielt darauf „Subjekte, Gruppen, Parteien, Meinungen, Interessen etc. aus dem Kreis des argumentativ Berücksichtigungs- und Beachtenswerten zu exkludieren, um den eigenen Interessen größere Zustimmungschancen zu verschaffen.“ (Zitate aus: Josef Kopperschmidt: Argumentationstheorie zur Einführung, Dresden 2000, S.77).
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin) zeichnet sich vor allem durch systematische Kritikimmunität aus. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung.
1.Beispiel
In den Öffentlichen Anhörungen des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen
des Deutschen Bundestages 1981 ging es um die geschichtliche Situation des geteilten Deutschland und natürlich auch um Fragen der (selbstverständlich) anvisierten deutschen Einheit. Dabei kamen neben diversen Bundestagsabgeordneten auch Historiker und Verbandsvertreter zu Wort. Auf sämtlichen 310 Seiten des Protokolls wurde nicht ein einziges Mal die Frage gestellt: „Wofür soll nationale Einheit eigentlich gut sein und welche unterschiedlichen Optionen sind denkbar bzw. sinnvoll?“ – Die einzige diesbezüglich ansatzweise kritische (schriftliche) Stimme kam von einem Vertreter der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Heinz Wiemer, S.181-184). Vorsorglich wurde der dann ‚krank’ und konnte somit nicht mehr persönlich erscheinen, um einen mündlichen Vortrag zu halten. – Er tat gut daran. Denn meines Ermessens vermutete er - meiner Ansicht nach wohl zu Recht - dass er von den erlauchten Anwesenden in der Luft zerfetzt worden wäre, wenn er die „traditionellen Vorstellungen nationaler Einheit“ (S.184) noch einmal verdeutlichend in Frage gestellt hätte. (Zur Sache 2/81. Themen parlamentarischer Beratung. Deutsche Geschichte und politische Bildung. Öffentliche Anhörungen des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages 1981, Bonn 1981)
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Man kann dieses Problem der Tabugrenzen schlecht nachweisen, wiewohl es universell gang und gäbe ist. Mir fallen ad hoc noch drei Beispiele ein:
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2. Beispiel
Erstens: Eine Fernsehdiskussion (2009) über Kinderpornografie, sexuellen Kindesmissbrauch und das Internet. Wobei beispielsweise eine Frage strikt umgangen wurde, die man ungefähr folgendermaßen auf den Punkt bringen könnte: Ist es denn vergleichbar, wenn ein geschlechtsreifes 13 jähriges Mädchen einen 16 jährigen Geliebten hat (der dann deswegen in den Knast kommt) damit, dass irgendwelche alten Schweine sich an kleinen Kindern vergreifen? (Das Tabu, jene Frage überhaupt anzugehen, ist offenbar wichtig für sexuell verklemmte Leute, die andere mit ihrer Verklemmtheit terrorisieren).
3. Beispiel
Zweitens: Eine ‚hochkarätige‘ Podiumsdiskussion, Uni Gießen 2010, über das Cypern-Problem, mit hochrangigen Deutschen und Griechen bzw. Griechischen Cyprioten auf dem Podium. Eine entscheidende Knackfrage wurde (ganz selbstverständlich) nicht gestellt: ob nicht gerade die jahrzehntelange Anwesenheit der türkischen Besatzung in Nord-Cypern überhaupt erst dafür gesorgt hat (aufgrund der langen Friedensphase), dass mittlerweile die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, Griechen-Zyprioten und Türken-Zyprioten, allmählich in einen friedlichen Dialog eintreten können? (Das Tabu ist wichtig für griechische Teilnehmer, soweit sie eine feindliche Einstellung gegenüber Türken haben. Denn dann würde die Anerkennung der Türkei als ‚Friedensmacht‘ in Cypern diese feindliche Einstellung in Frage stellen).
4. Beispiel
Drittens: Studentenbewegung, eine universitäre „Vollversammlung“
im Audi-Max Gießen, ca. 1975. Unter der Leitung des Obermarxisten Hrch. Brinkmann sollten sich etliche Gruppen bilden, um über bestimmte Themen zu beratschlagen: Dritte Welt und dergl. Eine Frage, die damals ziemlich virulent für die konkreten Studenten war, wurde allerdings als nicht zugehörig erst gar nicht ernst genommen: „Wie steht es mit den diversen Problemen der Mann-Frau-Beziehung konkret bei uns Studenten? Könnte man dazu nicht ebenfalls eine Themengruppe bilden?“. (Das Tabu ist sinnvoll für den leitenden Obermarxisten, weil diese Thematik nicht in sein marxistisches Repertoire passt. Somit müssten ‚fremde‘, sozusagen ungehörige Leute diese Thematik übernehmen, was zumindest eine Konkurrenz zur Autorität des Marxismus darstellen würde).
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