No. 16 - Als Außenseiter ausgrenzen
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Bedeutung (‚für sich‘)
Dient dazu, den Anderen (die betreffende Gruppierung) von vornherein aus dem gleichberechtigten (z.B. politischen) Diskurs und zur gleichberechtigten (z.B. politischen) Teilhabe auszuschließen. Der in dieser Richtung etikettierte wird zur (öffentlichen) Missachtung freigegeben. Ungeheuer wirkungsvoll bei vereinigten politischen (Hetz-) Kampagnen der Medien und/oder der politisch herrschenden Klasse. (Siehe im Vorwort/Einleitung das Zitat von Heinrich Böll).
Gehört zum typischen Arsenal autoritärer Verhältnisse – analog zu Mobbing und ‚Schwarzes Schaf’.
Ist eng verwandt mit No.11: Herstellen eines falschen Konsenses: Dient der Herstellung einer Pseudogemeinschaft. Außerdem Verwandtschaft mit No.01 (Bote schlechter Nachrichten).
Wird angewandt, um unliebsame, wenn auch relevante Ansichten auszuschließen „individuell wie kollektiv, in gesellschaftlichen Gruppen ebenso wie in politischen Systemen aller Couleur.“ „Zielt darauf „Subjekte, Gruppen, Parteien, Meinungen, Interessen etc. aus dem Kreis des argumentativ Berücksichtigungs- und Beachtenswerten zu exkludieren, um den eigenen Interessen größere Zustimmungschancen zu verschaffen.“ (Zitate aus: Josef Kopperschmidt: Argumentationstheorie zur Einführung, Dresden 2000, S.77).)
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin) zeichnet sich vor allem durch systematische Kritikimmunisierung aus. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung. Dazu gehört dann notwendigerweise alles, was nicht in die Festung gehört, auszugrenzen.
Außerdem wird die pragmadialektische Regel 3 verletzt, wonach die andere Position primär an ihren Argumenten gemessen werden muss. (Standpunktregel: „Der Angriff einer Partei auf einen Standpunkt muss sich auf den Standpunkt beziehen, der tatsächlich von der anderen Partei vertreten wurde“.) Erst nach der triftigen Widerlegung der Argumente des Standpunkts darf die Interpretation des Standpunkts (als Interessegeleitet oder sonstwas) auf einer Meta-Ebene erfolgen. Wenn eine solche (meist negative) Interpretation von vornherein erfolgt, geht man erstens nicht ernsthaft auf den Standpunkt ein und zweitens handelt es sich um ‚Vor-Urteile‘.
1. Beispiel
„Petra Kellys Grüne Partei.
Mehr Bewegung als eine Partei. Eine Koalition von Außenseitern: von Ökologen, Homosexuellen, Feministinnen, Vegetariern, wiederauferstandenen Protestlern der 60er Jahre.“ (Bericht im US-Fernsehen über die Deutschen Grünen. Aus dem Film „Die Grünen. Wie uns die Nachbarn sehen“, WDF-Dokumentation 1985)
2. Beispiel
Vor Lafontaines Rücktritt 1999
wurde wiederholt in der Bild-Zeitung gewichtig ein englisches Boulevard-Blatt (Sun) zitiert: „dies ist der gefährlichste Mann Europas.“ (Es war auch immer ein Foto von diesem gefährlichen Mann dabei mit abgebildet). Siehe dazu auch: „Der Rücktritt Oskar Lafontaines von allen Ämtern hat an der Börse die Kurse kräftig steigen lassen.“ [Link ist leider tot].
3. Beispiel
“Selbsternannt“
<ist keine neutrale Bezeichnung, noch weniger ein Lob: es ist deutlich negativ, bezeichnet einen illegitimen Anspruch. „Das Attribut selbsternannt ist kein Kompliment an den Selfmademan. Es ist ein Schimpfwort, und zwar eins der tückischen, durch nichts widerlegbaren, gegen die der Beschimpfte wehrlos ist. Was man ihm an den Kopf wirft, ist eine Art Amtsanmaßung: dass er sich als etwas ausgibt, wozu er nur von anderen gemacht werden könnte“, schreibt Dieter E. Zimmer in der ZEIT (Zeitspiegel) vom 23. September 1999. Generell soll damit eine nicht erwünschte Meinung, vor allem eine Kritik delegitimiert werden (…) Kritische Äußerungen über den Islam, so wird dabei stillschweigend unterstellt, bedürfen einer amtlich oder anderweitig anerkannten Befähigung (eines abgeschlossenen einschlägigen Fachstudiums zum Beispiel) und einer Approbation durch zuständige Autoritäten; wer darüber nicht verfügt, soll von Islamkritik Abstand nehmen, wie einer, der nicht Medizin studiert hat, auf die Behandlung von Patienten verzichten muss.>
(Aus: Siegfried Kohlhammer, Islam und Toleranz. Zu Klampen Essay 2011, in: „Anstelle eines Vorworts. Ich bin ein selbsternannter Islamkritiker!“)
4.Beispiel
Eine Partei XYZ ist „populistisch“
so wird es von den amtlichen deutschen Parteien (inklusive den offiziellen und halboffiziellen Medien) gegen ihnen missliebige Parteien (seit 2015 speziell die AfD) dekretiert. Damit wird eine als ‚populistisch‘ gebrandmarkte Partei quasi als nicht satisfaktionsfähig eingestuft. Das soll den Bürgern helfen, sich von diesen minderwertigen Außenseitern abzuwenden und sich den Offiziellen vertrauensvoll zuzuwenden. Auch irgendeine Protest-Demonstration kann von offiziell so genannten „Populisten“ frequentiert sein – und schon braucht man sich offiziöserweise um deren Anliegen nicht zu scheren – ja man darf es eigentlich auch gar nicht! Oft genug dient diese Etikettierung dazu, solche „Feinde der Demokratie“ mit wüsten Schmähungen und negativen Vorurteilen versehen zu dürfen. Sie sind sozusagen ganz offiziell zum Abschuss freigegeben: es herrscht ihnen gegenüber ‚open season‘. In irgendeiner Weise für voll nehmen darf man diese Feinde auf keinen Fall, sonst macht man sich selber auch noch als ‚Feind‘ verdächtig!
5. Beispiel
In der Wikipedia zum Thema „Klimawandelleugnung“ heißt es:
<Speziell für klimaskeptische Wissenschaftler stellte Peter Doherty eine vierteilige Klassifizierung vor:
- Glasklare Leugner, die dem IPCC Betrug vorwerfen und Klimaforscher für Narren halten.
- Kampflustige Streithähne, die automatisch eine Gegenposition zu jedem generellen Konsens einnehmen.
- Professionelle Polemiker, die durch ihre Beteiligung an einer bedeutenden öffentlichen Debatte nach persönlicher Anerkennung streben.
- Neinsager mit Interessenkonflikt, die früher eng mit Industriebranchen wie dem Bergbau zusammengearbeitet haben und nun einen starken Loyalitätssinn verspüren.>
- Sofern es sich tatsächlich um „Wissenschaftler“ handelt, die hier ‚klassifiziert‘ werden, müssten diese ja irgendwelche Argumente für ihre ‚klimaskeptische‘ Position bekunden. (Beispielsweise: Agerius, A.: Kritische Analyse zur globalen Klimatheorie. Falsifizierung der Basisstudie KT97 des IPCC, atmosphärischer Treibhauseffekt von 33 K, mit Messwerten des Satelliten ERBS an einem neuen Modell, 2. Auflage 2021). Nun kommt es aber nicht darauf an, sich primär auf die Interpretation ihrer Positionen zu konzentrieren (nach der Art, wie dies hier Peter Doherty tut), sondern stattdessen sich in erster Linie mit den Argumenten dieser Wissenschaftler auseinanderzusetzen. Ansonsten hätte man es mit Vor-Urteilen zu tun, deren hauptsächliches Ziel es ist, diese ‚klimaskeptischen‘ Wissenschaftler als irrelevante Außenseiter auszugrenzen (vgl. No.16). [Siehe dazu auch No.23, Beispiel 1 (Daniel Shechtman)].
6. Beispiel
Varianten des ad hominem–Fehlschlusses können dazu verwendet werden, jemanden auszugrenzen. Ich betrachte hier die Variante ‚poisening the well‘ [den Brunnen vergiften] und die Variante ‚circumstantial‘ [nebensächlich].
Variante ‚poisening the well‘: Hier wird von vornherein die Glaubwürdigkeit einer Person unterminiert. Beispielsweise: „Die Person ist psychisch krank, die kannst du nicht wirklich ernst nehmen.“ Oder: „Ich kenne Leute, die üble Erfahrungen mit der Person gemacht hatten.“ „Die Person hat selber zugegeben, dass sie Wähler der AfD ist, deshalb wirst du bald feststellen, wie rassistisch und nazimäßig diese Person drauf ist!“ Der Fehlschluss liegt in folgender Pseudo-Logik:
A. Eine negative Information über die Person wird vorab präsentiert, sodass schon von vornherein ein Vorurteil gegen die Person angelegt wird.
B. daraus folgt: Was die Person sagt, kannst du in vielen Fällen (oder sogar meistens) nicht ernst nehmen! Nicht nur die Ansichten, auch das Verhalten dieser Person ist fragwürdig, wenn nicht gar übelwollend.
Mit dieser Vorurteilsbildung werden die Aussagen und das Verhalten der Person von vornherein diskreditiert und unter Verdacht gestellt. Die Person wird sozusagen ‚belauert‘ und dadurch ausgegrenzt. – Angenommen, jene belauerte und ausgegrenzte Person ist sozusagen ‚unschuldig‘: ihre Aussagen sind weitgehend haltbar, in ihrem Verhalten tritt keine besondere Abartigkeit oder gar Bösartigkeit zu Tage. Die Frage ist dann natürlich, welche Motive stehen hinter jener Ausgrenzung? Wenn diese Ausgrenzung in irgendeiner Form der Interesselage des Ausgrenzenden dient, kann man annehmen, dass dieser ad hominem–Fehlschluss ‚poisening the well‘ wahrscheinlich eine ideologische Argumentation darstellt. – Was könnte solch eine Interessenlage sein? Gewisse Argumente, oder das Verhalten des Ausgegrenzten passen nicht in das Milieu (das System) des Ausgrenzers und sind deshalb für den Ausgrenzer Tabubrüche, die sein System gefährden. Folglich muss jener Tabubrecher kaltgestellt werden.
Variante circumstantial‘: Hier ist die Aussage von der Person schon gegeben, jedoch sie wird nicht ernst genommen, und zwar, indem nun an der Motivation der Person, die jene Aussage macht, herumgemäkelt wird: Er ist zu reich, deshalb… [es ist klar, wenn jemand reich ist, kann man ja verstehen, dass er so daherredet]; sie ist zu arm im Geiste, deshalb…; er will sich wichtig machen, deshalb…; sie will jetzt imponieren, deshalb…; er ist halt ein Angeber, deshalb…; sie hat gut reden, weil…; er will dir das verkaufen, kann man ja verstehn, dass er deshalb so redet, usw.
Speziell die folgenden Argumente aus dieser Auswahl dienen dazu, nicht einfach einzelne Aussagen nicht ernst zu nehmen, sondern eine ganze Person auszugrenzen: sie ist zu arm im Geiste, deshalb…; er will sich wichtig machen, deshalb…; sie will jetzt imponieren, deshalb…; er ist halt ein Angeber, deshalb…;
Auch hier gilt das oben gesagte Resümee bei der Variante ‚poisening the well‘. Wieder soll die Voraussetzung gelten: die ausgegrenzte Person ist ‚unschuldig‘: ihre Aussagen sind weitgehend haltbar, in ihrem Verhalten tritt keine besondere Abartigkeit oder gar Bösartigkeit zu Tage. Deshalb könnte man annehmen, dass in diesem Falle der angewandte ad hominem–Fehlschluss ‚circumstantial‘ wahrscheinlich eine ideologische Argumentation darstellt. Es wäre natürlich gut, man hätte eine Vermutung, warum hier ausgegrenzt wird. Man könnte die gleiche Vermutung anstellen wie oben: Gewisse Argumente, oder das Verhalten des Ausgegrenzten (also des Armen im Geiste, des Wichtigtuers, des Imponierlings, des Angebers) passen nicht in das Milieu (das System) des Ausgrenzers und sind deshalb für den Ausgrenzer Tabubrüche, weil sie sein System gefährden. Folglich muss jener Tabubrecher-Verbrecher mit Hilfe solcherlei übelwollenden Kategorien (Angeber u.ä.) kaltgestellt werden.
Siehe dazu auch No.11 Beispiel 5 (Kubicky macht sich unbeliebt beim „politischen Berlin“)
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No. 17 - Leichte Form der Totschlagsargumente („Killerphrasen“)
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Bedeutung (‚für sich‘)
Soll (konstruktive) Diskussion verhindern. Unliebsame Meinungen und Fragen sollen verhindert oder eingeschränkt werden; jemand soll nicht ernstgenommen bzw. abgewimmelt werden (Mobbing). [Die schwere Form der Killerphrase, das ‚Totschlagsargument‘, wird in No.12 dargestellt.]
Eine Darlegung dieser Thematik findet man bei „Philognosie“
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Auch hier spielt Kritikimmunisierung die entscheidende Rolle – auch wenn es sich (vielleicht) nicht um ein so ausgeprägt geschlossenes geistiges System handelt wie bei der schweren Form der Killerphrase, einem Totschlagsargument von No.12
1. Beispiel
"Du bist noch zu jung, um das beurteilen (verstehen) zu können"
2. Beispiel
„Dazu fehlt uns leider die Zeit"
3. Beispiel
"Das ist bloße (graue) Theorie!"
4. Beispiel
"Dafür sind wir nicht zuständig"
5. Beispiel
„Das ist bei uns (den X) nicht üblich. Wir sind keine Y“
6. Beispiel
„Das ist Geschmackssache“
7. Beispiel
„Das macht keinen Sinn“
8. Beispiel
“Es wurde doch immer schon geklagt, dass früher alles besser war”
9. Beispiel
“Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen?”
10. Beispiel
Wikipedia wehrt sich gegen Kritik
Zu einer ungewöhnlich genauen exemplarischen Recherche, die als Fallbeispiel gedacht war, wird gesagt: „Die Darstellung und die selektive Auswahl von nur einem Artikel im Video sehen wir kritisch“. (Einwand seitens der offiziellen Wikipedia zu dem Film von Markus Fiedler und Frank-Michael Speer: KenFM zeigt: Die dunkle Seite von Wikipedia) - ganzer Film: https://wikihausen.de/dokumentarfilm-die-dunkle-seite-der-wikipedia/
11. Beispiel
Ein hessischer SPD-Politiker (Gerhard Merz) bzgl. Flüchtlingen und Einwanderern
wird in einem Zeitungsinterview im Juni 2023 folgendes gefragt: „Mittlerweile sagen selbst grüne Bürgermeister und Landräte, dass sie keinen Platz mehr haben. Gibt Ihnen das nicht zu denken?“ Die Antwort: „Ich habe noch keine Debatte über Flüchtlinge erlebt, in der das nicht gesagt worden wäre.“ Und weiter unten: „Noch einmal, ich habe noch keine vergleichbare Situation erlebt, in der die Kommunen nicht gejammert hätten.“
(Quelle: Gießener Anzeiger 15. Juni 2023, Seite 20, Artikel mit der Überschrift: „Dann ist Europa am Ende“. SPD-Politiker Gerhard Merz geht hart mit der EU-Asylpolitik ins Gericht – Ein Gespräch. Von Ingo Berghöfer.)
(Ist verwandt mit dem obigen 8. Beispiel: „Es wurde doch immer schon geklagt…)
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No. 18 - Abwehrmechanismen produzieren - (Verleugnung, Verharmlosung, Abwehr eigener Schuld, Polarisierung, leere Behauptung)
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Bedeutung (‚für sich‘)
Dient dazu, die Auseinandersetzung mit unliebsamen Problemen, beispielsweise eigene Schuld aber auch unliebsame Realität, vor dem Bewusstsein anderer (und oft auch dem eigenen Bewusstsein) abzuwehren.
Eine wichtige Facette des Abwehrens unliebsamer Realität ist der
Abwehrmechanismus ‚Verleugnung‘ : <Negieren, dass bestimmte Sinneseindrücke, die Angst oder Verletzung hervorrufen, stattgefunden haben; z.B. ein belastendes Ereignis oder eine Belastung durch ein spezielles Ereignis.> (Aus Psychologie-Lexikon).
Bei der ‚Verharmlosung‘ handelt es sich um die Abwehr eines Schuld-Eingeständnisses. Es würde sich somit um Fälle von ‚Geschichtsklitterung‘ bzw. ‚Realitätsklitterung‘ handeln, was in tangierenden Interessenkonstellationen zu erheblichen Diskrepanzen führen kann, da aufgrund mangelnder oder nicht erwünschter realistischer Einsicht ein vernünftiger Konsens nicht herstellbar ist. Die Verharmlosung bzw. Abwehr eigener Schuld nimmt oft die Form an: „die anderen aber auch“, bzw. „mir ging’s auch nicht besser“. das dient dazu, dass man sich dem Problem nicht wirklich stellen muss.
Ein weiterer, öfters vorkommender, (meist unbewusster) Vorgang zum Zwecke des Abwehrens unliebsamer Realität ist die polarisierende Argumentation: es gibt nur den absoluten Gegensatz, nicht den einfachen Gegensatz, nichts Vermittelndes und nichts dazwischen. (Logischerweise ist der absolute Gegensatz etwas anderes als der einfache Gegensatz: Der einfache Gegensatz zu Weiß ist nicht Schwarz sondern alles Mögliche andere an Farben außer Weiß. Dagegen Schwarz ist zu Weiß der absolute Gegensatz).
Ein wichtiger Spezialfall der polarisierenden Argumentation ist die Nullsummenargumentation die eine Seite existiert nur auf Kosten der anderen Seite. Oder dein Gewinn ist mein Verlust, weshalb ich deinen Gewinn (oft unbewussterweise) unbedingt (zwanghaft) herabsetzen muss. (Hier wird die Möglichkeit des beiderseitigen Gewinns durch Kooperation ignoriert).
Die polarisierende Argumentation ist übrigens ein Spezialfall von N0.39 Primärprozess-Argumentation.
Schließlich noch der gerne angewandte Trick der Null-Behauptung, der leeren Behauptung als Argument. Grundsätzlich können alle möglichen Eigenschaften und Sachverhalte als leere Behauptungen verwendet werden: Du bist grün, du bist rot, du bist radikal, du bist unrealistisch, du hast einen an der Waffel, hier gibt es nichts, rein gar nichts, das ist Propaganda, das ist Müll, das ist zum Kotzen. – Der wesentliche Punkt des Gebrauchs der leeren Behauptung als Argument ist das Fehlen eines empirischen, echt gelaufenen Beispiels (also kein Phantasiebeispiel). Wenn jemand argumentiert: „Du hast einen an der Waffel“, so müsste ein empirisches Beispiel her (vielleicht ein konkret angewandter Begriff aus der Psychiatrie), welches dieses Argument belegen soll. Ohne (mindestens) einen solchen empirischen Beleg wird der reale Sachverhalt mit diesem Trick vernebelt und verschleiert. - Mit einer Null-Behauptung will jemand einen Rechthabens-Gewinn in der Argumentation erzielen, ohne dafür in überprüfbare Empirie zu investieren. – Interessanterweise trifft sich das mit dem Popper‘schen Falsifikationismus, wonach eine Hypothese nur dann empirisch ist, wenn sie prinzipiell widerlegbar ist. Wenn jemand für seine leere Argumentations-Behauptung kein widerlegbares Beispiel beibringt, so ist sie nicht empirisch sondern bestenfalls emotiv oder schlechterdings ganz platte ideologische Abwehr bzgl. der Realität. Hinter dieser Abwehr verbirgt sich – wie in der Regel zu vermuten ist - ein moralisch- negativer Grund. Es sei denn, jemand ist tatsächlich nicht (ohne Weiteres) in der Lage, ein Beispiel beizubringen.
Diese Thematik ist verwandt mit No.43 – ignorantes Abschalten.
Das gesamte Thema „Abwehrmechanismen“ ist verwandt mit No.02 „Datenverdünnung“.
[Anmerkung: eine klare Trennung zwischen bewusst und unbewusst lässt sich nur schwer herstellen. Ein Grund dafür ist, dass ein gewissenhafter Mensch mehr unbewusst ideologische Abwehrmechanismen benutzt, während jemand, der sein Gewissen (partiell) mit irgendwelchen Finessen narkotisiert, nicht nur unbewusst, sondern auch bewusst agiert. Und schließlich gewissenlose Menschen („Soziopathen“), die voll bewusst den Leuten was vormachen.]
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Die Objektivität der Darstellung wird durch diverse (zum Teil unbewusste) Tricks der Falschdarstellung bzw. Vernebelung des Sachverhaltes verhindert.
1. Beispiel
Abwehr eigener Schuld (Verharmlosung):
Ein Vater, der sein Kind früher sexuell mißbrauchte,
sah hierin kein Problem: „Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass Du therapiebedürftig bist in diesem Zusammenhang.“
(Echtes Zitat aus dem Film: „Kindesmissbrauch: tiefe Wunden, verletzte Seelen“, RTL 2010 (Film ist leider nicht mehr zu sehen);
In diesem Video wird aus dem Film des Filmemachers Michael Stock zitiert: „Postcard to Daddy“. – Die Fehlargumentation hier ist das ‚Argumentum ad ignorantiam‘. (Siehe zur näheren Erläuterung die diversen in dem folgenden Link aufgelisteten Fehl-Argumentationen das Beispiel 9).
2. Beispiel
Polarisierung:
Es gibt nur entweder verwöhnende Erziehung oder autoritäre Erziehung.
Bei dieser (üblicherweise unbewussten) polaren Ansicht wird übersehen, dass es (logischerweise) nicht nur diesen absoluten Gegensatz gibt, sondern auch den einfachen Gegensatz. Der einfache, d.h. nicht absolute Gegensatz zur verwöhnenden Erziehung ist nicht die autoritäre Erziehung, sondern es gibt alles Mögliche an nicht-Verwöhnendem zwischen dem verwöhnendem und seinem absoluten Gegensatz, dem Autoritären. Zu dem Dazwischen gehört auch die ‚antiautoritäre Erziehung‘ (als Fachbegriff im Sinne Alexander Neills) oder auch die autoritative Erziehung. Desgleichen ist der einfache Gegensatz zur autoritären Erziehung nicht schnurstracks die verwöhnende Erziehung sondern alles Mögliche an nicht-Autoritärem, wozu eben auch die antiautoritäre Erziehung gehört.
3. Beispiel
Polarisierung:
Hitler: wenn nicht Freundschaft dann Feindschaft mit England
<Denn über eines war ich mir im Klaren: Wenn es eben nicht gelingen konnte, die englische Freundschaft zu bekommen, dann war es besser die Feindschaft traf Deutschland in dem Augenblick, in dem ich selber noch an der Führung des Reiches stand. Denn wenn durch meine Maßnahmen und durch mein Entgegenkommen diese englische Freundschaft nicht zu erwerben war, dann war sie für alle Zukunft nicht zu erwerben. Dann blieb nichts anderes übrig als der Kampf.> (Hitler im Sportpalast 03.10.1941). Die Haltlosigkeit der Argumentation liegt hier in der künstlich eingeschränkten Fallunterscheidung: entweder Freundschaft oder Krieg. Dass es dazwischen noch ein breites Spektrum an Möglichkeiten gibt, fällt damit unter den Tisch.
(Vgl. dazu auch Haltlose Hitler-Argumentationen (3))
[Siehe dazu auch No.48: Mangelnde Fallunterscheidung als wesentliches Element von Propaganda].
4. Beispiel
Schuldabwehr
„wir haben aber auch gelitten“:
Hannah Arendt 1949/50: <Man neige offenbar dazu“, so beobachtete die jüdische Emigrantin „die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen“, was dann offenkundig bedeute, „dass die Leidensbilanz ausgeglichen sei“.>
(DER SPIEGEL, 47/2014, S.146 in dem Artikel „Schuld und Scheitern“ – über den ZDF-Spielfilm „Das Zeugenhaus“)
[Siehe dazu des Weiteren N0. 42 – Whataboutism oder „Du aber auch“]
5. Beispiel
Verharmlosung
„andere aber auch“
Wölfe sind keine Kuscheltiere, Wildschweine aber auch nicht. <Wölfe sind keine Kuscheltiere. Sie reißen Schafe und Rinder, wenn deren Halter sie nicht ausreichend schützen. Sie können sogar Menschen töten. Doch das können auch Wildschweine, Kühe und – wenn man Pech hat – Zecken. Vorsicht ist geboten, Panik aber nicht.>
(DER SPIEGEL, 35/2015, S.9 in dem Kommentar von Julia Koch „Rufmord im Revier“ – über eine Anti-Wölfe Propaganda-Kampagne der BILD-Zeitung).
Die Argumentation der Kommentatorin halte ich insofern für unstatthaft, als dass üblicherweise kein Mensch freiwillig ein zusätzliches Risiko eingehen, und deswegen zusätzlich besonders vorsichtig (und entsprechend ängstlich) sein will, wenn er/sie durch den Wald ‚so für sich hin‘ geht. In Zukunft könnte man dann auch noch andere Gefahren entsprechend einreihen in die anderen Wald-Gefahren (z.B. Giftschlangen, Mörderbienen, Bären). Oder man denke an den Straßenverkehr, z.B. ohne jegliche Vorwarnung offene Straßengullys, wie wir sie paradigmatisch auf einer Schnellstraße in Gdansk (Polen) 1991 erleben durften: d.h. „Vorsicht ist geboten, Panik aber nicht“. Selbstverständlich gab es auch damals schon in Polen die üblichen Gefahren beim Schnellverkehr: z.B. Geschwindigkeits-Übertretungen, Alkoholismus, defekte Autos, Unachtsamkeit, usw.
[Siehe dazu des Weiteren N0.42 – Whataboutism oder „Du aber auch“]
6.Beispiel
Null-Behauptung, leere Behauptung als Argument,
Beispiel RT-deutsch
No.44, Beispiel 1 (Stichwort: Sender Russland Television RT-deutsch)
7.Beispiel
Null-Behauptung, leere Behauptung als Argument
Beispiel Roma
In den YouTube-Kommentaren zu einer Deutsche-Welle-Sendung „Roma in Rumänien“ gab es folgende Diskussion:
A sagt: Hört auf zu Jammern und schickt die Kinder zur Schule.
B sagt: Aber viele Schulen sind rassistisch gegen die Roma eingestellt.
C sagt: „Dann macht doch, verdammt noch mal, eure eigenen Schulen! Und damit meine ich NICHT das Anlernen von Taschendiebstahl, Einbrüchen etc. Sondern das Erlernen von Mathematik, Sprachen, Geschichte usw., sowie praktischer Handwerkstätigkeit.“
Darauf dann D: „Achso weil das ja so einfach ist. Wie unrealistisch kann man eigentlich sein?“
C erwidert: „versteh ich leider nicht: Was genau ist daran so unrealistisch?“
Antwort von D: „wie soll man denn aus dem nichts ne schule eröffnen? Das zeigt einfach das du absolut keine Ahnung hast wie sowas Eig aufgebaut ist und was so alles dafür braucht. Tja, dass ist halt der privilegierte Mensch der denkt alles wächst auf Bäumen. Und genau solche Leute geben immer ihren Senf dazu“
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Dem Argument „unrealistisch“ fehlt die empirische Qualifikation desgleichen dem Argument „aus dem nichts“. Des Weiteren den Argumenten „wie sowas Eig aufgebaut ist“ und „was so alles dafür braucht“. Es handelt sich also um leere Behauptungen.
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No. 19 - unbewusste strategische Lüge
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Bedeutung (‚für sich‘)
Es ‚trifft sich einfach zu gut‘, eine Unwahrheit als richtig anzusehen und dies dann nach Außen und nach Innen offensiv zur Überzeugung zu machen. Es handelt sich wie bei No.18 um einen (oft unbewussten) Abwehrmechanismus. Nicht nur das bewusste strategische Lügen (siehe No.29), sondern auch das Lügen, das dem Unbewussten entstammt, kann als strategisches Mittel eingesetzt werden, um einen Vorteil zu erlangen bzw. um Fehlverhalten zu kaschieren. Erhebliche Nachteile von dadurch betroffenen Menschen werden nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern geradezu als gerechtfertigt angesehen.
Es kann auch gewisse Überschneidungen hin zur bewussten Lüge (siehe No.29) geben. Jemand, der sich der unbewussten strategischen Lüge hingibt, nimmt es mit der Wahrheit generell nicht genau und kann durchaus noch ein paar bewusste, vorsätzliche Lügen (sozusagen für den guten Zweck) oben draufsatteln.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Die Objektivität der Darstellung wird durch diverse unbewusste Tricks der Falschdarstellung des Sachverhaltes verhindert.
1.Beispiel
Der deutsche Antisemitismus nach dem 1. Weltkrieg
diente etlichen deutschen Militärs dazu, nachträglich das eigene Fehlverhalten des leichtfertigen Kriegseintritts 1914 und seine Folgen 1918 zu kaschieren. Diese Ideologie ‚passte einfach zu gut‘, um sich mit ihrer Hilfe zu exkulpieren: Der 1. Weltkrieg war in Wahrheit, ihrer (haltlosen) Ansicht nach, ein Machwerk des internationalen Judentums. Sie selber waren somit nur die unschuldigen Opfer finsterer Machenschaften.
(Vgl. dazu: Politisch=Anthropologische Monatsschrift XIX. 3, 1920, Artikel „Die Weltkrankheit“, verfasst vom Herausgeber Dr. Schmidt-Gibichenfels. Siehe des Weiteren auch meinen Aufsatz „Haltlose Hitler-Argumentationen“ Punkt 4). Es handelt sich hier um ein Beispiel von ‚Geschichtsklitterung‘.
2.Beispiel
Negativistische Projektion eigener Problemstellungen auf andere Menschen.
Ein wichtiger Aspekt dieser unbewussten Vorgänge ist die Projektion des Schattenarchetyps gemäß C.G. Jung. Wikipedia: <Die Projektion des Schattenarchetyps, also verdrängter eigener Eigenschaften, Wünsche und Taten - vor allem solcher, die mit gesellschaftlichen Normen in Konflikt stehen, oder für die sich der Projizierende schämt – auf andere Menschen, um sich selbst von diesen distanzieren zu können. Es handelt sich um einen Abwehrmechanismus zur Bewältigung der Negativanteile der eigenen Persönlichkeit. Dieser Abwehrmechanismus führt aber häufig zu sozialen Konflikten, bis hin zu der Verfolgung von Minderheiten und Krieg.>
Ein konkreter Fall dazu: Beispielsweise hatte Rüdiger Braun, ein blond gescheitelter Mitschüler (sehr wahrscheinlich Nazi-Elternhaus), mit dem ich eigentlich in der Schule (Mitte 50er Jahre) ziemlich viel zu tun hatte, plötzlich die Eingebung, den Jungens in einer Schulhofpause zu versichern: Er hätte mich im Bergwerkswald heimlich genau beobachtet, wie ich ein Mädchen an einen Baum gefesselt hätte und dann… (… man weiß ja! weiter hat er nie erzählt). Ich war völlig platt über diese aus der Luft gegriffene Phantasieleistung! Das Einzige was daran stimmte war, dass ich äußerst gerne im romantischen Bergwerkswald war. – Was blieb mir übrig, als ihn nach der Schule zum Kampf in den nahegelegenen Schutthalden der reichlichen Kriegstrümmer unserer Stadt rauszufordern. Danach lief er mit blutender Nase zu meiner Mutter am Wurstbudchen und beschwerte sich über mich.
Der arme Maulstinker, gegen den ich nie wirklich was hatte, hat es also für nötig befunden, ein Vorurteil gegen mich zu produzieren und dies auch noch auf diese drastische Weise unter die Mitschüler zu bringen. Was war – um jetzt meine Theorie anzuwenden - sein Problem? Offenbar muss er gespürt haben, dass er in vielerlei Hinsicht arm dran war. Obwohl er in meinen Augen durchaus ein starker Kerl war. Aber wenn ich es mir genauer überlege, gab es bei mir wesentlich mehr Action als bei ihm. Und wer weiß, mit welchen sexuellen Verklemmungen (die er auf mich projizierte) er sich (schon) damals rumplagte, und was sie eigentlich bedeuteten.
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No. 20 - Irrelevante, pseudo-plausible Gegenargumente - zur Stützung antikooperativer Mentalität
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Bedeutung (‚für sich‘)
Es soll nicht darum gehen, einen kritischen Sachverhalt objektiv zu würdigen und gemeinsam zu produktiven Lösungen zu gelangen, sondern durch pseudo-plausibles Kontern Kritik abzuwehren. Ergebnis ist feindseliges Gegeneinander statt Kooperation.
Ist verwandt mit N0.18 „Abwehrmechanismen“.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Verstoß gegen die Pragma-Dialektik, Regel 5, Begründungsregel: Ein Argument darf nur als gültig gelten, wenn es auf akzeptierten Prämissen beruht. M.a.W., es dürfen dem Kontrahenten nicht Prämissen unterstellt werden, die sich aus seinen Äußerungen gar nicht entnehmen lassen.
1. Beispiel
Argument:
„Ein Praktikant soll Einblick in die Realität des Berufslebens erhalten. Zum üblichen Berufsleben gehört auch, dass man zu besonderen Anlässen (‚Stoßzeiten’) Überstunden macht, die später wieder ausgeglichen werden.“ (Rede an den in den pünktlichen Feierabend entschwindenden Praktikanten). –
Gegenargument:
„Es ist nicht akzeptabel, dass eine Angestellte, die erst seit kurzem im Betrieb ist, mir gegenüber diese kritische Ansicht äußert.“ (Empörte Rede des Praktikanten am nächsten Tag). Anmerkung: Jene Angestellte war eine äußerst fähige Frau, die den Laden schon von früher her in und auswendig kannte.
2. Beispiel
Ein studentischer Mieter
lässt eines seiner Fenster im Winter bei 6 Grad Minus gekippt offenstehen und fährt für eine Woche weg. Bei anschließendem Gespräch des Vermieters mit ihm wird vom Mieter gefragt, ob er das Fenster nun nicht mehr zum Lüften aufmachen dürfe?
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