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No.46  bis  No.51

 

No. 46 - Gesinnungs-Exorzismus

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Bedeutung (‚für sich‘)

Abwehr unliebsamer Realität. Es geht hierbei um die systematische Vermeidung von ernsthafter Argumentation mit einem (angeblichen) Gegner. Jemand, der die falsche Gesinnung hat (d.h. nicht: einfach nur die falschen Argumente hat), sollte möglichst Redeverbot erhalten oder zumindest, wenn ihm schon erlaubt ist zu reden (beispielsweise im Parlament), sollte man ihm nicht zuhören oder gar mit rationaler Gegen-Argumentation ernst nehmen. Es handelt sich um die typische autoritäre Praxis der Exklusion, der Ausgrenzung ‚schwarzer Schafe‘.  - Ein öffentliches Schauspiel, das in Deutschland, selbst bei Betonung von Toleranz, Demokratie und Grundgesetz, bei jeder sich als ‚staatsnotwendig‘ darstellenden Gelegenheit wieder neu aufgeführt wird.

(Das Thema ‚Gesinnungs-Exorzismus‘ ist eng verwandt mit dem Thema No. 38 ‘Objektivierung; Verwandtschaft auch mit No.16 - Als Außenseiter ausgrenzen. Weitere Verwandtschaft mit No.43 - Ignorantes Abschalten).

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Verweigerung der Informationsaufnahme und erst recht der Argumentation bzgl. einer unliebsamen Thematisierung. Realitätsverweigerung.

 

1. Beispiel

Du darfst bei Kollegen im Institut nicht sagen, dass es unter den jungen Männern, die als 'Flüchtlinge' hier ankommen, eine Menge Kriminelle gibt.

Dann wird Dir unterstellt: "Also bist Du der Ansicht, dass alle (jungen) Flüchtlinge Kriminelle sind.“ - Das wäre ja noch eine halbwegs rationale Diskussion, aber mit Deiner Äußerung hast Du Dich als ‚Rechtspopulist‘ geoutet. Und das bedeutet: da ist jemand mit einem Gesinnungs-Gen versehen, vor dem man sich in Acht nehmen muss. Dieses bedarf eines sorgfältigen Exorzismus. Alle politischen Argumente, die nun von diesem ‚Rechtspopulisten‘ kommen, haben ihren Ursprung in jenem Gesinnungs-Gen und man muss sich dagegen wappnen wie vor einem gefährlichen Virus. D.h. man muss Deine Argumente meiden wie die Pest – am besten gar nicht erst hinhören – oder wenn, dann möglichst falsch verstehen. (Diese Exorzismus-Haltung findet sich auch in diversen ‚Hohen Häusern‘.)

2. Beispiel

Im ‚Dritten Reich‘ musste sich ein ‚richtiger Deutscher‘ vor jüdischen Einflüssen in Acht nehmen. Intellektuelle galten als verdächtig, weil tendenziell ‚philosemitisch‘.

(Siehe No.38: Bestimmte Gruppen als politische Gegner ‘objektivieren’). - Interessant ist auch die Entwicklung einer ‚deutschen Physik‘: <Die Deutsche Physik ist eine weitgehend auf Deutschland begrenzte antisemitische Lehre; genauer handelte es sich um eine unter maßgebenden Fachvertretern nicht sehr weit verbreitete Bewegung, deren Beginn auf das Erscheinen von Philipp Lenards Werk Große Naturforscher 1929 datiert werden kann und die mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 endet. Sie lehnte die moderne Physik – namentlich die Relativitätstheorie und Quantenmechanik– als jüdisch ab….> Lenard wurde entsprechend von Adolf Hitler mit dem Preis der NSDAP für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet. (Quelle: Wikipedia). Es handelte sich also offenbar um eine Art Exorzieren des jüdischen Gesinnungs-Gens aus der Physik. Die wissenschaftlichen Argumente der Relativitäts- bzw. Quantentheorie zählen demnach nur für Juden und/oder philosemitische Intellektuelle, nicht jedoch für vorgeblich richtige, d.h. antisemitische Deutsche. (Siehe auch No.08, Beispiel 3 - Lenard vs. Einstein).

3. Beispiel

Siehe No.38 Beispiel 3 (ARAG Antifa Gießen-2016)

ARAG Antifa Gießen-560

 

 

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No. 47 – Die Methode des Touch-Turn-Talk (TTT)

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Bedeutung (‚für sich‘)

Es geht darum, unbequeme Erkundigungen (etwa seitens eines Journalisten an einen Politiker) wegzuwischen, die der Politiker definitiv nicht beantworten will, weil er durch ehrliche Beantwortung übel dastehen würde.

Die Frage ist für ihn (oder sie) deshalb: wie komme ich am besten aus dieser Nummer wieder raus? Und da bietet es sich als Trick an, geschickt auf ein anderes Thema zu wechseln, mit dem man dann trotzdem (oder erst recht -zumindest bei einem entsprechenden Publikum) gut ankommt. – Die Methode besteht darin, erstens irgendwie dem Journalisten entgegenzukommen, indem man ausdrückt, dass man dessen Fragestellung zumindest wahrgenommen hat. Das ist der ‚Touch‘-Anteil der Methode. Dann, zweitens, einen halbwegs überzeugenden turning point des Übergangs vom Thema des Journalisten zu dem Wunsch-Thema des Politikers zu finden, bei dem er glänzen kann, z.B. „Wir sind dabei, solche und andere Probleme zu lösen, indem wir bla bla bla“. Sodann drittens eben der Talk-Anteil (der blubber-blubber-blubber-Anteil) der Methode: Das Wunsch-Thema des Politikers wird von ihm so ausführlich dargestellt, dass er erstens gut dasteht, und dass man zweitens möglichst den Anfang und die Frage, um die es mehr oder minder geht, vergisst, und drittens, dass möglichst keiner mehr (straflos) aufmucken kann gegen die von so viel Moralität und hoher Sittlichkeit getragene Person.

Wer einmal diesen Trick durchschaut hat, kann rückschließend folgern, dass der Politiker tatsächlich von dem Thema negativ betroffen ist, weil er es mit dieser TTT-Methode so geschickt umschifft.

(Ist verwandt mit No.21– „Irrelevante, pseudo-plausible Gegenargumente zur Stützung einer ansonsten nicht plausiblen Entscheidung“. Desweiteren mit No.43 – Ignorantes Abschalten).

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

  • Verweigerung der Informationsaufnahme und erst recht der Argumentation bzgl. des Themas. Abwehr unliebsamer Realität.
  • Verstößt gegen die folgende pragmadialektische Regel (8): Ein Widerlegungsversuch muss  sich  auf  denjenigen  Standpunkt  beziehen,  der  tatsächlich  von  der  Gegenpartei  in  der  Diskussion geäußert worden ist.

1. Beispiel

Feroz Khan bringt in seinem YouTube Kanal „Achse:ostwest“ eine Sendung vom 24.04.2020 mit dem Titel

„Angela Merkel: ein Meister der Manipulation“

darin sind auch einige Beispiele bzgl. ihrer virtuosen Verwendung der ‚Touch-Turn-Talk-Methode‘. So etwa fragt der AfD-Abgeordnete Dr. Curio im Bundestag (Video ab 7:30 Ende 9:30) anlässlich einer Tat in Augsburg, wo migrantische Jugendliche im Dezember 2019 einen Feuerwehrmann ins Jenseits beförderten und einen anderen schwer verletzten, die Bundeskanzlerin, nachdem Curio sein Thema mit Daten bzgl. Zuwanderer-Kriminalität untermauert hat, ob es sich hier ihrer Ansicht nach um einen Einzelfall handele oder ob sie das „systemische Problem“ erkenne?

Ihr Touch-Ansatz war: Ich erkenne, dass in Augsburg eine schreckliche Tat verübt wurde, und dass unsere Gefühle natürlich bei den Angehörigen sind (usw.). Ihr Turn-Ansatz war: Der Staat soll jegliche Form von Gewalt bekämpfen, wo immer sie auftritt. Ihr Talk-Ansatz gipfelte nach langer Rede schließlich in dem Satz: „Unser Rechtsstaat ist handlungsfähig sowohl auf der Bundesebene als auch auf der Länderebene“.

Mit keinem Wort ging sie auf die klare und grundlegende Frage von Dr. Curio ein, ob sie bei der enorm gestiegenen Zuwanderer-Kriminalität das „systemische Problem“ erkenne.

(Man kann also durchaus vermuten, indem die Bundeskanzlerin bei ihrer Antwort auf die Anfrage des AfD-Abgeordneten Curio die TTT-Methode so geschickt verwendet, dass sie in der Tat das systemische Problem erkennt, dies aber keinesfalls offiziell zugeben will).

2. Beispiel

Tellkamp vs. Grünbein –

siehe No.04, Beispiel 3

 

 

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No. 48 – Mangelnde Fallunterscheidung als wesentliches Element von Propaganda

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Bedeutung (‚für sich‘)

Indem relevante Fälle ausgeklammert werden, entsteht eine gewisse Suggestivwirkung, indem nur die vom Propagandisten gewünschten Fälle betrachtet werden. Insofern es sich um relevante Fälle handelt, die ausgeklammert werden, erscheint somit ein falsches Bild. Die Herstellung dieses manipulierten Bildes ist jedoch der eigentliche Zweck des Propagandisten. (Unabhängig davon, ob er bewusst manipuliert oder selber dran glaubt).

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Es handelt sich um eine verkappte Form des Circulus vitiosus. Wenn ich nur das bei meiner Argumentation voraussetze, was mir gefällt, und alles Übrige ausblende, so komme ich selbstverständlich auch zu einem Ergebnis meiner Argumentation, das mir gefällt. Objektives Denken erfordert jedoch, dass man auch relevante Sachen mitberücksichtigt, die mir nicht genehm sind. Dass man also eine haltbare Fallunterscheidung trifft.

1. Beispiel

Dr. Ley auf einer ‚Großkundgebung‘ zum Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler

In den Tagebüchern (1939 – 1945) von Friedrich Kellner finden sich auch jede Menge Zeitungsausschnitte als Dokumente aus jener Zeit. Ich werde jetzt einen davon herausgreifen, um die NS-Propaganda zu beleuchten (S. 761).

Der Zeitungsartikel (ungenannter Herkunft, vermutlich “Völkischer Beobachter”) stammt vom 22. Juli 1944 und hat die Überschrift „Treuebekenntnis der Werktätigen“. Untertitel: Dr. Ley sprach in einer Berliner Großkundgebung über das Attentat auf den Führer.

<Der Großappell wurde über alle deutschen Sender übertragen und von den Gefolgschaften der deutschen Betriebe im Gemeinschaftsempfang während der Werkpause miterlebt.>

<Die Millionen in der Rüstung schaffenden Volksgenossen lauschten dem Reichsorganisationsleiter atemlos und folgten mit grimmiger Verbitterung gegen die Verbrecher der flammenden Anklage Dr. Leys, dessen Rede sie immer wieder durch Zurufe und Beifall unterbrachen. Dieser große Appell an der Stätte des deutschen Werkschaffens brachte wiederum in einer historischen Stunde überzeugend die enge und durch nichts zu erschütternde Verbundenheit zwischen der nationalsozialistischen Führung und dem gesamten deutschen Volk zum Ausdruck.>

Dr. Ley führte aus:

< (...) Im Augenblick wurde der Nation klar, was aus Deutschland würde, wenn dieser Mordanschlag wirklich die von den Mördern beabsichtigten Folgen gehabt hätte und Adolf Hitler nicht mehr wäre.

Die Auswirkungen wären unfaßbar, unvorstellbar. Mit einem Mal wäre ein gewaltiges Werk vernichtet, alle Aussichten auf Erfolg und Sieg wären verschwunden. Vor allem aber würden Millionen deutscher Menschen in ein unsagbares Elend, in Sklaverei, Vernichtung, Armut, Not und Hunger hineingeführt – ganz abgesehen davon, daß die Opfer, die Millionen von Soldaten und Familien in der Heimat durch Hingabe ihres Blutes gebracht hätten, vergeblich gewesen wären. Unser Volk würde hilflos unseren erbarmungslosen Feinden ausgeliefert sein.> (Fette Lettern im Originaltext).

Friedrich Kellner, der den Zeitungsartikel damals in seinem Tagebuch kommentierte, schrieb u.a. dazu, S. 762 f.:

<Uebrigens begrüße ich die Rettung des Führers, weil er aus taktischen Gründen bis zum bitteren Ende dabei sein muß. Es darf für künftige Zeiten keine Ausrede möglich sein. Er muß dableiben bis es gar keinen Ausweg mehr gibt, bis selbst die „Vorsehung“ nicht mehr helfend ihm zur Seite steht.>

M.a.W.: Was Dr. Ley da behauptet, ist ja nur eine Denkmöglichkeit. Es gibt mindestens noch eine entscheidende andere, nämlich eben die Niederlage Deutschlands, wie sie nicht nur Friedrich Kellner ganz klar voraussah, sondern eben auch die Leute vom 20. Juli, wenn man Hitler weiter gewähren ließe. Hier haben wir wieder die mangelnde Fallunterscheidung, die diesmal zur Hypnose der beifallsklatschenden deutschen Werktätigen maßgeblich beiträgt. Die Aussichten auf „Erfolg und Sieg“ sind lt. Dr. Ley auch Mitte 1944 immer noch vorhanden. (Also NACH der Operation Overlord vom 6. Juni 44 am Atlantik und NACH der sowjetischen Operation Bagration vom 22. Juni 44 an der Ostfront). Diese Vorstellung Dr. Leys entspricht keineswegs der objektiven Realität: sie ist schlicht und einfach ziemlich unwahrscheinlich, und eine objektive Bestandsaufnahme müsste dies eingestehen. Insofern, als er sich dieser Realität verweigert, ist diese einseitige Auffassung eine Legende.

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Um noch einmal auf das Problem des Circulus vitiosus in diesem Zusammenhang einzugehen:

Wenn ich nur das bei meiner Argumentation voraussetze, was mir gefällt, und alles Übrige ausblende, so komme ich selbstverständlich auch zu einem Ergebnis meiner Argumentation, das mir gefällt. Objektives Denken erfordert jedoch, dass man auch relevante Sachen mitberücksichtigt, die mir nicht genehm sind. Dass man also eine haltbare Fallunterscheidung trifft. Wenn beispielsweise Dr. Ley einzig davon ausgeht, dass wir mit Adolf Hitler den Krieg gewinnen werden, und nicht berücksichtigt, dass wir auch mit Hitler den Krieg verlieren können (ja sogar sehr wahrscheinlich verlieren werden!), so kommt er selbstverständlich zu demjenigen Ergebnis, das ihm in den Kram passt, dass nämlich die Leute des 20. Juli 44 definitiv Verbrecher sind, da sie uns ja an die Feinde ausliefern (wollen). Hätte er die Wahrscheinlichkeit des weiteren Kriegsverlaufs berücksichtigt, so wäre auch die Frage, ob die Leute des 20. Juli tatsächlich ‚Verbrecher‘ waren, zu erörtern.

2. Beispiel

"Panorama"–Moderatorin Anja Reschke zur Flüchtlingsthematik

Ich beziehe mich hier auf einen Artikel im Gießener Anzeiger vom 23.01.2016.

<Auf Einladung von Prof. Ulrike Weckel, Leiterin des Studienfachs Fachjournalistik Geschichte [an der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen], ist Anja Reschke nach Gießen gekommen, um über kritischen Journalismus und vor allem über das Fernsehmagazin "Panorama" zu sprechen.> Die Überschrift des Zeitungsartikels lautet: <“Kübelweise Dreck“ und „Verrohung der Sprache“>. Es geht in dem Artikel um diverse Aspekte der Sichtweise Anja Reschkes auf die sog. Flüchtlingsproblematik‘, so beispielsweise folgender Aspekt:

Dass die Medien gerne über außergewöhnliche Ereignisse berichten und damit auch über die Flüchtlinge, führt nach Anja Reschkes Ansicht zu folgenden Reaktionen: <Darauf lasse sich mit „zwei Gefühlen“ reagieren: „O Gott, die will ich nicht, die sind so anders“ und „die Menschen sind da und wir müssen uns um sie kümmern“.>

Wie soll man auf so viel merkwürdige Einfältigkeit einer Fernseh-Chefin reagieren? Als ob es nur diese albernen zwei Möglichkeiten gäbe, die Frau Reschke hier aufzählt. Soviel ich weiß, behaupten auch etliche hartgesottene Pegida-Anhänger lediglich, dass sie kein Gesindel hier haben wollen, gegen rechtschaffene, anerkennenswürdige Flüchtlinge hätten sie keineswegs was. Schon allein diesen trivialen Fall an Reaktionsmöglichkeit kann (oder besser: will) die Journalistin Reschke offenbar nicht in ihr geistiges Repertoire integrieren. Es handelt sich meiner Ansicht nach hier nicht um einfache Einfältigkeit sondern um eine tricky ideologische Argumentation mithilfe prinzipiell mangelhafter Fallunterscheidung. Der Zweck dieser ideologischen Argumentation ist es, die eigentliche Problematik, die sich hier auftut, zu ignorieren bzw. nicht zur Debatte kommen zu lassen.
Es wird deutlich, dass es sich hier um Propaganda handelt, denn zum Grundrepertoire aller Propaganda gehört nun mal die mangelnde Fallunterscheidung.

(Genauere Darstellung von Reschkes Vortrag, siehe „empirische Übung 3“)

3. Beispiel

Hitlers Propaganda-Theorie

Hitler stellte in seinem Buch „Mein Kampf“ (Bd. 1, 19251) einige Prinzipien wirkungsvoller Propaganda dar. Der entscheidende Punkt für ihn ist, dass Differenzierung schädlich ist, weil sie die Wirkung der Propaganda abschwächt. Selbstverständlich zählt fehlende Differenzierung relevanter Unterschiede zur mangelnden Fallunterscheidung. Diese Hitlersche Propaganda-Methode wird auch heutzutage in Deutschland noch immer gerne angewandt.

<Aus der Perspektive „der Masse der eigenen Anhänger“ solle „der Kampf“ stets nur „gegen einen Feind allein geführt“ werden, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine „Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern“ handle; andernfalls drohe eine „Lähmung der eigenen Kraft“.>

(Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München-Berlin 2016, S.70; Mein Kampf Bd. I/3, München 19251, S.123f.)

Die Autoren der „kritischen Edition“ merken noch an: <Das erhebliche Wirkungspotential einer solch rigiden Freund-Feind-Ideologie für die politische Kultur der Weimarer Republik ist unbestritten.>

(Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München-Berlin 2016, S.70)

Ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise Hitlerscher Propaganda findet sich 1933:

<Rede im Sportpalast am 10.02.1933 (1.Teil)

Hitler versucht in dieser Rede, alle Probleme der Weimarer Republik als Schuld der Marxisten hinzustellen. Besonders klar als falsch erweislich ist die folgende Stelle:

ab 18.36 Min bis 19.36 Min

14 Jahre herrscht heute diese Partei. 14 Jahre herrscht diese Weltanschauung. Manches Mal vielleicht unverhüllt, manches Mal schamhaft verdeckt. Aber im Kern immer noch der selbe Geist, den Sie tausendfältig überall sehen. Und die Ergebnisse, sie sind grauenhaft. Ich will nicht die Vergangenheit nehmen und mich [1 Wort unverständlich] an dieser Vergangenheit, sondern will nur nehmen diese 15 Jahre, die hinter uns liegen. Angefangen von dem Tage an dem hier in Deutschland der Munitionsstreik ausbrach, übergehend dann endlich zu dem Tage, da die rote Fahne gehißt wurde und die Revolution unser Volk verwirrte...“

Dazu ist folgendes zu bemerken: Die Marxisten hatten keineswegs 14 Jahre lang die Macht in der Weimarer Republik - weder in der Politik und erst recht nicht in der Wirtschaft. Indem Hitler die bürgerliche Welt der Weimarer Republik mit den marxistischen Parteien undifferenziert in einen Topf wirft, kann er alle Parteien und politischen Institutionen der Republik durch diesen Argumentationstrick der  falschen Identifizierung - vor seinem fanatischen Anhang scheinbar gerechtfertigt – verbieten.> (Aus: https://www.aulbach-philosophy.de/Themen/Hitler-Argumentationen/hitler-argumentationen.html, Haltlose Hitler-Argumentationen (1))

Auch die Autoren der „kritischen Edition“ von ‚Mein Kampf‘ sehen das analog:

<Der Gegner ist dabei ausnahmslos der „Marxismus“ – ein Begriff, unter dem Hitler in seiner Schrift undifferenziert die unterschiedlichsten Gruppen subsumiert, von den demokratischen, liberalen Parteien über die Gewerkschaften bis hin zur KPD.>

(Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München-Berlin 2016, S. 72).

Hitler rechtfertigte diese propagandistisch notwendige Undifferenziertheit mit Massenpsychologie, wonach den Menschen nicht bewusst ist, dass sie manipuliert und ihrer geistigen Freiheit beraubt werden. Auch sehnen sie sich nach Stärke.

<Gleich dem Weibe (…) liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Inneren mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt.> (Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München-Berlin 2016, S. 181; Mein Kampf Bd. I, München 19251, S. 42)

Diese human und freiheitlich klingende Textstelle ist rhetorisch gegen die Propaganda der „Sozialdemokratie“ (bzw. der Marxisten) gemünzt und Hitler kommt zu dem folgenden praktischen Schluss für die Propaganda der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik: <Wird der Sozialdemokratie eine Lehre von besserer Wahrhaftigkeit aber gleicher Brutalität der Durchführung entgegengestellt, wird diese siegen, wenn auch nach schwerstem Kampfe.>

(Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition , München-Berlin 2016, S. 181; Mein Kampf Bd. I, München 19251, S. 42)

(Dieser letzte Schlenker ist übrigens verwandt mit No.30, Verdrehen der Schuld).

4. Beispiel

Ehrenhafte und niederträchtige Opfer eines Krieges

Ein gewichtiger Anteil von Propagandismus (im Rahmen des durch Imperialismus geprägten internationalen Systems) bildet die Überbelichtung von Schandtaten des ‚Feindes‘ und die möglichst totale Unterbelichtung von Schandtaten der eigenen Seite.

So schreiben Edward S. Herman und Noam Chomsky in ihrem Überblick über ihr Buch (über die manipulative Fabrikation von Konsens durch die Massenmedien) in der Einleitung von 2002:

<WORTHY AND UNWORTHY VICTIMS [Opfer] In chapter 2, we compare the media’s treatment of victims of enemy states and those of the United States and U.S. client [abhängige] states. Our prediction [Prognose] is that the victims of enemy states will be found “worthy” and will be subject to more intense and indignant [empört] coverage [Berichterstattung] than those victimized by the United States or its clients, who are implicitly “unworthy.” It is shown in chapter 2 that a 1984 victim of the Polish Communists, the priest Jerzy Popieluszko, not only received far more coverage than Archbishop Oscar Romero, murdered in the U.S. client-state El Salvador in 1980; he was given more coverage than the aggregate [Gesamtsumme] of one hundred religious victims killed in U.S. client states, although eight of those victims were U.S. citizens. This bias [Einseitigkeit] is politically advantageous [vorteilhaft] to U.S. policy-makers [politische Entscheidungsträger], for [denn] focusing [Fokussieren, Schärfe-Einstellung] on victims of enemy states shows those states to be wicked [bösartig, niederträchtig] and deserving [verdienen] of U.S. hostility [Feindschaft]; while ignoring U.S. and client-state victims allows ongoing U.S. policies [Politik, Strategie] to proceed more easily, unburdened [unbelasted] by the interference  of concern [störende Einmischung] over the politically inconvenient [lästige] victims.>

(Quelle: Edward S. Herman and Noam Chomsky. Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. Random House 1988-2002-2008. Kindle-Version. (S.24-25). Gibt es auch auf deutsch.

 

 

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No. 49 - Schnitt mit der Schere – Nichtberücksichtigen der Vorgeschichte

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Bedeutung (‚für sich‘)

Nur mit Hilfe der Vorgeschichte wird eine Geschichte erst richtig verständlich. Wenn man nun die Vorgeschichte einfach wegschneidet, wiewohl sie essentiell wichtig zum Verständnis wäre, und nur die End-Geschichte als solche betrachtet, so kann damit ein falscher Eindruck erweckt werden, der dem wahren Sachverhalt nicht gerecht wird. (Ist verwandt mit No.45 – „Statische Festlegung eines an-sich-Seienden“)

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Die Objektivität der Darstellung wird durch diverse (zum Teil unbewusste) Tricks der Falschdarstellung des Sachverhaltes verhindert. Vor allem durch Ausblenden relevanter Tatsachen.

 

1. Beispiel

Ein 3 ½ -jähriges Kind spielt mit einem anderen Kind

Eine schöne Spielsituation (mit einem anderen Kind) wird mittendrin sinnfrei, kalt und unvermittelt von einem Erwachsenen abgebrochen. Dann kann das Kind durchaus unbewusste Prozesse, die sich bspw. in scheinbar völlig unmotivierten Aggressionen äußern, produzieren.

Wenn jetzt von dem Erzieher des Kindes lediglich die Endsituation der ‚völlig unverständlichen‘ Aggressivität des Kindes betrachtet wird, und nicht auch die Vorgeschichte, welche jene Aggressivität verständlich macht, so hat man hier den „Schnitt mit der Schere“. Gewöhnlich folgt aus diesem Abschneiden eines wichtigen Teils des Gesamtprozesses eine entsprechend irrationale Interpretation des Sachverhaltes mit entsprechend irrationalen Reaktionen des Erziehers. Das Kind wird ‚an sich‘ als ‚aggressiv‘ eingestuft und wird nun entsprechend falsch, d.h. schlecht behandelt.

 

2. Beispiel

Ein Arbeitskollege hält sich gegenüber seinen Kollegen nicht an Absprachen.

Auch eine vom Betrieb finanzierte Mediation nutzt nichts, weil er auch hier wieder die Absprachen nicht einhält. Nach vielerlei redlichen Versuchen, die jedoch zu keinem positiven Ergebnis führen, wird ihm schließlich gekündigt. – Was der ehemalige Arbeitskollege nun rumerzählt, ist das üble Verhalten, dass ihm einfach aus heiterem Himmel gekündigt worden sei. Die Vorgeschichte der Kündigung wird von ihm in seinen Erzählungen weggeschnitten. Natürlich werfen seine Erzählungen sodann ein schlechtes Licht auf den Betrieb.

 

3. Beispiel

Ukrainekonflikt

I. YouTube-Doku

Dr. Daniele Ganser: Wie kann man im Chaos Frieden finden? (Jens Lehrich 10.03.22)

Ganser ist Schweizer Historiker und Friedensforscher. [Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER.CH)]

 

Daniele Ganser ab Minute 7:35

<(…) Nein da bin ich der Meinung, Putin hätte diese Invasion nicht machen müssen. Aber, und das möchte ich anfügen: es ist auch wichtig, dass wir im Westen hier nicht glauben, der Krieg hat am 24. Februar 20-22, also jetzt vor 2 Wochen angefangen. Es ist nicht wahr, sondern in dem Moment hat er von einem Bürgerkrieg zu einem internationalen Krieg gewechselt. Darf ich das kurz erklären?

Also einen Bürgerkrieg gab es in der Ukraine von 2014 bis 2022. Und ein Bürgerkrieg bedeutet einfach, dass keine internationale Macht über die Grenzen kommt und schießt, mit Panzern rüberrollt. Und diesen Bürgerkrieg muss man so erklären: Es gab in der Ukraine einen Putsch am 20. Februar 2014. Meiner Meinung nach ist dieser Putsch durch die USA ausgeführt worden. Das war Victoria Nuland [hohe amerikanische Spitzendiplomatin, für Europa zuständig; (Verf.)], die damals dieses abgehörte Telefonat mit Geoffrey Pyatt, US-Botschafter in Kiew geführt hat. [Vor dem Regimechange. Siehe Näheres unten, Ganser Vortrag 2015, (Verf.)]. Und dieser Putsch – über den Putsch könnte man reden, wär wieder ein eigenes Thema [Siehe Näheres unten, Ganser Vortrag 2015, (Verf.)] – aber einfach kurz zusammengefasst, dass die Leute einen Überblick bekommen: dieser Putsch ist die erste Krise in der Ukraine. Und nach dieser ersten Krise hat sich die Krim abgespalten – gehört dann nach einer Abstimmung zu Russland. Russland hat auch Soldaten auf die Krim gebracht, und das war schon mal: die Landmasse der Ukraine wurde kleiner. Und dann, auch in 2014, hat die Regierung, die durch den Putsch an die Macht gekommen ist, das ist Premierminister Jazenjuk, der von den USA an die Macht gebracht wurde, weil die USA gehofft haben, er könne die Ukraine in die Nato führen, der ist danach gegen den Osten gelaufen, also gegen den Donbas, weil dort eben ein Teil der Ukraine gesagt hat: „Du, diese Putschregierung, die akzeptieren wir nicht!“ Und das ist dann ein Bürgerkrieg, weil, es ist die eigene ukrainische Armee, die gegen die Ukrainer im Osten sozusagen mit Panzern vorrückten. Es gab auch etwa 13 000 Tote in 8 Jahren. Nur, das hat hier im Westen praktisch niemand interessiert. Also ich hab wirklich immer wieder darüber geschrieben, ich habe Vorträge darüber gehalten – es war immer so: „Ok, also dieser Bürgerkrieg in der Ukraine, den interessiert jetzt nicht so sehr.“ Und das, was jetzt eigentlich in den Medien passiert, ist: Der Eindruck wird vermittelt, der Krieg hat erst mit der Intervention von Russland begonnen; und das stimmt nicht. Und es ist wichtig für uns, die Vorgeschichte zu verstehen. Also die Nato Osterweiterung, das ist das erste; der Putsch, das ist das zweite und der 8-jährige Bürgerkrieg, das ist das dritte. Wenn wir diese Elemente verstehen, heißt das nicht, dass wir die Invasion von Putin gutheißen, das tu ich auf keinen Fall. Aber es fördert ein Verständnis der Komplexität dieses Konflikts.> (Minute 10:37)

 

II. YouTube-Doku

 

Dr. Daniele Ganser: Ukraine 2014, ein illegaler Putsch (Berlin 10.5.2015)

(Thema des Vortrags: Verdeckte Kriegführung. Regime Change in der Ukraine: Was steckt dahinter?)

 

Staatsekretärin Victoria Nuland: die Verantwortliche im Amerikanischen Außenministerium für Europa unter Präsident Obama. (ab Minute 1:12)

Nuland 13.12.2013:

„Wir haben mehr als 5 Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.“

Victoria Nuland im Telefongespräch mit Geoffrey Pyatt, US-Botschafter in der Ukraine kurz vor dem Regime Change:

„I don’t think Klitsch [gemeint ist der Boxer Klitschko; (Verf.)] should go into the government, I don’t think it’s necessary, I don’t think it is a good idea … I think Jazenjuk is the guy, he’s got the economic experience, the government experience.“

 

4. Beispiel

Lanz vs. Guérot- NATO und der Ukraine-Krieg

Bing über Lanz:

Seit 2008 moderiert er im ZDF seine Talkshow "Markus Lanz", in der er jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag eine große Bandbreite an Gästen und Themen präsentiert - politisch aktuell, gesellschaftspolitisch relevant, berührend und unterhaltsam.

Bing über Guérot:

Ulrike Guérot ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Publizistin und hatte bis Februar 2023 die Professur für Europapolitik an der Universität Bonn inne. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Entwicklung von Konzepten zur Zukunft des europäischen Integrationsprozesses gewesen. Guérot hat sich auch zu verschiedenen politischen Themen geäußert, darunter das Verhältnis zwischen NATO und EU, die Flüchtlingskrise, der Brexit, die Corona-Pandemie und der russische Überfall auf die Ukraine.

 

Exkurs: Warum platte Erfahrung nicht ausreicht, man braucht auch wissenschaftliche Sichtweisen

Das ‚Abschneiden der Vorgeschichte‘ ist eigentlich nur ein Spezialfall der Tatsache, dass man keine Wissenschaft bräuchte, wenn alles schon gemäß der offensichtlichen Wahrnehmung feststellbar ist und dass diese „Feststellung“ und die ihr folgende Interpretation die Wahrheit schlechthin verbürgt. Demgemäß wäre die Sonne das sich Bewegende und die Erde das Konstante. Daran glaubt intuitiv ein Jeder. Die Sonne geht morgens auf und abends unter. Man sieht ja abends beim Sonnenuntergang förmlich, wie sie sich immer weiter runter bewegt, bis sie verschwindet. Doch die physikalische Wissenschaft hat festgestellt, dass hier bestimmte Zusammenhänge eine gewichtige Rolle spielen, welche dieser Intuition einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen: Es ist die Erde, sie ist erstens rund und nicht flach und zweitens sie dreht sich um sich selbst, um ihre eigene Achse, während die Sonne das relativ dazu Konstante ist. - Ganz analog verhält es sich mit vielen anderen Gegebenheiten der Wissenschaft. So kann z.B. lt. Meteorologie El Nino für problematische Wetterverhältnisse in diversen Weltgegenden sorgen, worauf man normalerweise, d.h. ohne Wissenschaft, nie kommen würde. – Und so verhält es sich auch in der Politikwissenschaft: Internationale Beziehungen sind ein komplexes System vor allem diverser imperialer Mächte („Realismustheorie“). Somit kann beispielsweise der US-Krieg in Vietnam als einseitiges Verbrechen der imperialistischen USA angesehen werden (das ist die vordergründige Sichtweise), kann aber – wissenschaftlicherweise - andererseits – im Sinne der ‚Realismustheorie‘ als Teilmoment des komplexen Systems diverser imperialer Machtbestrebungen (damals UdSSR, Rotchina, Volksbefreiungsbewegungen und des imperialen Westens im Kampf um seinen Bestand) angesehen werden - d.h. als Bestandteil von ‘Geopolitik’. - Und so verhält es sich auch mit dem Ukraine-Krieg. Es gibt etliche Indizien, dass vor allem die USA als die dominierende Macht der NATO aber auch die EU eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und der Fortsetzung dieses Konflikts spielen und nicht lediglich Russland und die Ukraine die Akteure dieses Krieges sind. Ein Hauptindiz ist oben von Daniele Ganser in Beispiel 3 (Victoria Nuland) dargestellt. Jedoch lohnt es sich, insbesondere auch folgende Literatur zu studieren:

Brzezinski, Zbigniew. The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives (S.v). Basic Books. Kindle-Version.

Baldwin, Natylie; Heartsong, Kermit. Ukraine: ZBIG's Grand Chess Board & How The West Was Checkmated. Geopolitics, Russia, Ukraine, United States, NATO, European Union, China. Kindle-Version.

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In einer Talkshow von Markus Lanz wurde die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in die Mangel genommen, weil sie die USA aufgrund ihrer entscheidenden Rolle im Ukrainekrieg auch für mögliche Friedensverhandlungen als die entscheidende Macht ansieht. „Der Schlüssel zum Konflikt liegt in Amerika.“ Markus Lanz als auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des dt. Bundestags, hatten dafür keinerlei Verständnis, da ja der verbrecherische Krieg allein von Putin verschuldet sei und allein der müsse den Krieg auch beenden. Zu diesem Behufe nutzten sie beide ausgiebig moralische ‚Totschlagsargumente‘ (vgl. No.12 - Totschlagsargumente: Mit moralischer Begründung kritische oder unliebsame Ansichten zum Schweigen verurteilen.) Sekundiert wurden Strack-Zimmermann und Lanz von einem amerikanischen Journalisten, der fortwährend behauptete, die Amerikaner hätten schon mit Putin verhandelt (was natürlich keine solchen Verhandlungen waren, wie sie sich Guérot vorstellte). Sodass also 3 feindselige Leute auf die Professorin einhagelten, und sachliche Klärung der unterschiedlichen Positionen im Meinungsstreit war hier absolute Fehlanzeige.

 

Strack-Zimmermann und Ulrike Guérot zu Waffenlieferungen und Friedenslösungen | Lanz vom 02.06.22   (YouTube)

 

(ab 12:05)  Guerot: < (…) dass der Schlüssel in Amerika liegt, warum? Weil es doch Putin zentral darum geht, Sicherheitsgarantien zu bekommen. Und deswegen liegt der Verhandlungsschlüssel bei Biden, und deshalb muss das Gespräch zwischen Biden und Putin irgendwann stattfinden. Und ich glaube, wenn es stattfindet, haben wir wirklich einen Schlüssel, um diesen Konflikt zu lösen.>

 

(ab 23:09) Lanz: < (…) Wenn die Erzählung stimmt, dass sich da einer provoziert fühlt durch die NATO, dann frage ich Sie - ganz einfache Frage - Bitte um konkrete Antwort. Ist es sozusagen eine Sache der NATO, wenn man dann jemand, der mit dem Fahrrad vom Einkauf nach Hause kommt, einfach von dem Fahrrad runterballert; kämpft man dann gegen die NATO oder ist man dann jemand, der jede-jede Hemmung, jede Moral, alles, was irgendwann mal Anstand war, was man selbst im Krieg nicht macht, verloren hat. Hat das irgendwas mit der NATO zu tun? - Die arme Frau, die vom Einkaufen nach Hause kommt (…) die berichtet hat, wie sie mit ihrem Mann nach Butscha zieht, in diesen Vorort, weil in Kiew die Mieten und die Eigentumspreise immer höher klettern; ein ganz normales europäisches Leben in den Städten kann man sich nicht mehr leisten, man zieht in diesen idyllischen Vorort Butscha, man lebt dort 1 Jahr, ist schwanger, man lebt dort in dieser kleinen Wohnung, dann entschließt man sich Anfang März zu fliehen, und fünf Minuten später wird man Zeuge, hochschwanger, wie der eigene Ehemann brutal, in diesem Auto, an dem weiße Fahnen hängen, Zeichen für Zivilisten, hinter dem Lenkrad mit dutzenden Kugeln durchsiebt und erschossen wird. Wenig später ist auch dieses Kind tot, man ist in einem Krankenhaus, man weiß nicht, wann man rauskommt, (…) und das Einzige, was mir noch geblieben ist, ist mein Hund. Und ich frage Sie jetzt nochmal: hat das irgendwas mit der NATO zu tun? Was hat diese arme Frau, diese Englischlehrerin oder Deutschlehrerin, was hat die mit der NATO zu tun?>

 

 

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No. 50 – Suche nach Sündenböcken

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Bedeutung (‚für sich‘)

Der ‚Sündenbock‘ muss dafür herhalten, die vorhandenen Probleme wahrnehmungsmäßig abzuwehren und sie dem ‚Bock‘ aufzuhalsen, der damit in die Wüste geschickt wird. Man kann sich dann weiterhin im positiven Lichte sehen bzw. das weitere gesellschaftliche Umfeld soll das ebenso sehen.

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Verweigerung der Informationsaufnahme und erst recht der Argumentation bzgl. des Themas. Abwehr unliebsamer Realität

1. Beispiel

Bei dem Unternehmen Barbarossa, d.h. die schnelle Blitzkriegs-Eroberung der Sowjetunion durch die deutsche Wehrmacht ab 22. Juni 1941

gingen Hitler & Konsorten anfangs davon aus, dass das ein Kinderspiel sei. Im Laufe der Monate bis Dezember 1941 war man deutscherseits immer wieder neu der Ansicht, dass der Sieg so gut wie gelaufen sei, wiewohl sich - trotz aller großen deutschen Erfolgen in Russland - die Angelegenheit allmählich schon länger hinzog, als Anfangs gedacht. Einen dieser deutschen Zwischensiege nahm Hitler zum Anlass, den endgültigen Sieg zu verkünden.

<The Germans had scored [erzielt] major victories at Vyazma and Briansk with perhaps 750,000 Soviet troops being overrun together with 6,000 guns and mortars [Mörser] and 830 tanks. A 300-mile wide breach [Bresche] had been unceremoniously [kurzerhand] torn in the Soviet defences.>

<Sensing this success, Hitler addressed an audience at the Berlin Sportpalast on 4 October. It was his first speech to the nation since the start of the invasion. He announced that in ‘the greatest battle in the history of the world’ the Soviet Union was beaten, and with cheers resounding around the hall, added that she ‘would never rise again’.>

Clark, Lloyd: Kursk: The Greatest Battle (S.121). Headline. Kindle-Version.

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Am 5. Dezember 1941 jedoch kam der Vormarsch der Deutschen kurz vor Moskau definitiv zum Stehen:

<most panzer divisions were reporting fewer than 20 operational tanks by early December and there was a widespread lack of food, ammunition and fuel. Faced with the reality of his worn-out [abgekämpft, verschlissen] troops’ parlous [furchtbare] situation, a frustrated Hitler halted the offensive on 5 December and authorized the limited withdrawal of Army Groups Centre and South. Guderian [Kommandierender der Panzergruppeᅠ2 innerhalb der Heeresgruppe Mitte] later wrote: ‘Our attack on Moscow had broken down. All the sacrifices and endurance of our brave troops had been in vain. We had suffered a grievous [schwerwiegend] defeat [Niederlage] …’ Hitler’s gamble had failed, Barbarossa was dead – tripped up and ground down by its over-ambition and Soviet resilience.>

Clark, Lloyd. Kursk: The Greatest Battle (S.133). Headline. Kindle-Version.

Ab dem 5. Dezember ging die Rote Armee, völlig überraschend für die Wehrmacht, mit frischen, gut ausgerüsteten Reserven zum Gegenangriff über und vertrieb die Deutschen vor Moskau – bis beide Seiten Anfang Januar 1942 vorläufig am Ende ihrer Kräfte waren. Das war natürlich eine Niederlage der Deutschen, gemessen an den prahlerischen Siegesverkündigungen wie beispielsweise durch Hitler im Sportpalast am 4. Oktober.

Für Hitler war der Grund dieses Scheiterns vor Moskau klar: Seine Generale – unter ihnen auch Guderian - hatten die Schuld, dass Hitlers Siegesversprechen nicht eingehalten wurde! Sie waren die Sündenböcke und mussten entsprechend in die Wüste geschickt werden.

<Guderian, a general who knew his own mind [der wusste, was er wollte] and would stand up to Hitler [Paroli bieten], was also sacked [gefeuert] amid [zusammen mit] claims [Behauptungen] of an unauthorized withdrawal [Rückzug].>

<By the first week of January 1942, the total number of senior [hochrangig] generals sacked by Hitler had reached 35.>

Clark, Lloyd. Kursk: The Greatest Battle (S.137). Headline. Kindle-Version.

 

2.Beispiel

Die Rolle des Sündenbocks aus systemischer Sicht in der Familientherapie

Der Sündenbock ist nicht einfach nur das "Problemkind", sondern vielmehr ein Symptomträger, der unbewusst die Spannungen und Konflikte der Familie externalisiert.

Die Familie kann sich als quasi "normal" ansehen, soweit sie ihre Probleme personalisiert. Die Familie braucht sich dann nicht systematisch mit ihren Konflikten und den diversen Kommunikationsproblemen zu beschäftigen, sondern der primäre Fokus liegt auf dem "defekten" Individuum und nicht auf dem "kranken" System an und für sich.

Siehe dazu auch No.24 - Beispiel 2 (Systemische (Familien-Ttherapie)

 

 

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No. 51 – Instrumentelle Pseudologie als strategischer Parasitismus

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Bedeutung (‚für sich‘)

Der wichtigste Aspekt der hier gemeinten Art von Pseudologie (von zwanghaftem Lügen)  ist die Manipulation, die einen pragmatischen Zweck hat. Also einerseits ein logisch und/oder empirisch haltloses Gespinst (die ‚Pseudologie‘), aber andererseits doch der durchaus materielle, pragmatisch-empirische Effekt des Parasitismus in unterschiedlichsten Formen. Z.B. Persönliche Beziehungen: Eine Person, die konstant Pseudologie fabriziert, um den anderen zu manipulieren und zu kontrollieren, entwickelt diesbezüglich parasitäres Verhalten. Sie nutzt dann die Täuschung, um emotionale Abhängigkeit zu schaffen und ihren eigenen Vorteil zu maximieren. - Oder: Hochstapelei: Manche Menschen erfinden eine falsche Identität oder übertreiben ihre Leistungen (z.B. mit getürkten Doktorarbeiten, falschen Lebensläufen, o.ä.), um sich Zugang zu exklusiven sozialen Kreisen oder finanziellen Vorteilen zu verschaffen. Andere Beispiele wären: Betrügerische Geschäftsmodelle, irreführende Vertragskonditionen, häufige unzutreffende Krankmeldungen an der Arbeitsstelle, Erschleichung von sozialstaatlichen Leistungen, politische Manipulation etwa durch systematisch haltlose Narrative, usw.

 

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Das per Pseudologie vorgegaukelte Gespinst ist unrealistisch oder auch logisch unhaltbar – es fehlen beispielsweise die notwendigen Voraussetzungen für seine reale Existenz. Es ist also unbewiesen bzw. argumentativ nicht ernsthaft vertretbar. Auch kann es sich um „kognitive Verzerrung“ handeln, da Menschen manchmal manipulieren, ohne es bewusst zu tun – etwa durch Selbsttäuschung oder Überzeugungskraft, die auf unreflektierten Mechanismen beruht (z.B. Überspielen von Minderwertigkeitskomplexen, narzisstische Bestätigungssucht).

 

1. Beispiel

Ein Kommentar bei Quarks:

 

<Noch während unserer Beziehung und vor ihrer neuen Beziehung versuchte sie jemanden, der wohl ihr nächster Beziehungspartner werden sollte, mit einem gefälschten Ultraschallbild an sich zu binden. Der junge Mann war so aufgelöst, dass er es in Erwägung zog, sie zu töten. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn kennenlernte, ich glaube, sie bat mich, mit ihm zu reden. Es gelang mir mit Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht schwanger, sondern eine notorische Lügnerin sei und mir zu Beginn unserer Beziehung auch eine falsche Schwangerschaft vorgelogen hatte.

Zur Frage, ob sie bewusst gelogen oder die Lügen selbst geglaubt hat: Sie war sehr kreativ, und es schien ihr sehr leicht zu fallen, zu lügen. Aber sie hatte sie mittels fingierten Belegen auch vorbereitet oder nachträglich gestützt. Sie hatte sich Vorteile erschwindelt und durch die Lügen Anerkennung erfahren. In wenigen Situationen wurde sie nervös und befürchtete, dass das Lügengebäude zusammenbrechen oder etwas Wahres ans Licht kommen könnte. So raunte sie mir einmal auf der Straße zu, dass ein uns entgegenkommender Mann, sollte er sie ansprechen, sie mit ihrer Zwillingsschwester verwechseln würde. Die „Zwillingsschwester“ (die sie selbst gespielt hatte) hatte ich am Telefon und später auch bei einem Treffen „kennengelernt“, als sie angeblich schwerkrank in einem Krankenhaus „auf Jamaika“ gelegen und „unser Kind“ verloren hatte. Ich bin sicher, sie wusste, dass sie mir und Anderen falsche Realitäten vorlog. Sie hat ja auch Belege gefälscht, Fotos, Lieder umbenannt, eine Rolle gespielt…

Ich kann nicht sagen, ob oder wie gleichgültig ihr der Schaden war, den sie anrichtete. Aber sie beabsichtigte bewusst, Andere zu ihrem Vorteil zu manipulieren.>

2. Beispiel

Gießener Anzeiger vom 30.05.2025, S.11 mit der Überschrift „15 Jahre Haft für falsche Ärztin“. Drei Todesfälle durch Behandlungsfehler. Zusätzlich noch gefährliche Körperverletzung in 10 Fällen.

<Die Verurteilte hatte sich mit einer gefälschten Approbationsurkunde eine Anstellung als Narkoseärztin in einem Hospital in Fritzlar (Schwalm-Eder-Kreis) erschlichen. Dort war sie seit 2015 als Assistenzärztin in der Anästhesie tätig.

2018 wechselte sie in den Reha-Bereich einer Klinik in Schleswig-Holstein – laut Ermittlern ebenfalls wieder unter falschen Angaben. Doch beim Wechsel der Ärztekammer wurden Unstimmigkeiten in ihren Unterlagen entdeckt.

Ihr Werdegang ist verschlungen: Mal studierte sie Biologie, mal Zahnmedizin. Sie absolvierte eine Heilpraktikerprüfung sowie zahlreiche Praktika. Abschluss und Promotion erfolgten schließlich in Biologie. Der Doktorgrad wurde ihr von der Uni Kassel allerdings wegen eines Plagiats wieder entzogen. Einen zweiten Doktortitel soll sie im Internet gekauft haben. Eine abgeschlossene Ausbildung als Ärztin hat die 54-Jährige nicht.>

3. Beispiel

Interessant ist auch das Phänomen von ‚Future Faking‘ vorwiegend seitens eines narzisstischen Beziehungspartners (oder auch z.B. bei einer antisozialen Persönlichkeitsstörung).  Was ist Future Faking?

  • Vage Versprechungen generell über ein Interesse an gesellschaftlich und/oder individuell sinnvollen Problemlösungen - beispielsweise über die diversen Probleme einer beabsichtigten Ausbildung: Es gibt kaum klare Details, konkrete Pläne, Realisierungen oder feste Zeitpunkte diesbezüglich.
  • Das ‚Irgendwann‘ bedeutet eine Vernachlässigung des Jetzt: was ist jetzt tatsächlich real machbar, statt sich in illusorischen Zukunftsvisionen zu verlieren.
  • Sobald ein Ziel ganz konkret angesteuert werden müsste, wird ein neues vorgeschoben.
  • Die Irrealität dieses Future Faking zeigt sich in der Beantwortung der folgenden Frage: Wird konsequent nach den Worten gehandelt?

Mit solcherlei Future Faking soll der (willige!) Beziehungspartner an der Nase herumgeführt werden. Letztlich kommt als eigentliches pragmatisches Ziel dieser haltlosen Gespinste heraus, dass der (willige!) Beziehungspartner für alles Wichtige zu sorgen hat und der narzisstische oder antisoziale ‚Partner‘ ein parasitäres Drohnen-Leben führen kann.

 

 

 

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