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No.21  bis  No.25

 

No. 21 - Irrelevante, pseudo-plausible Gegenargumente - zur Stützung einer ansonsten nicht plausiblen Entscheidung

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Bedeutung (‚für sich‘)

Es soll nicht darum gehen, einen kritischen Sachverhalt objektiv zu würdigen und zu vertretbaren Lösungen zu gelangen, sondern durch pseudo-plausibles Kontern Kritik abzuwehren. Ergebnis ist folglich eine verantwortungslose Entscheidung bzw. Stellungnahme.

Ist verwandt mit N0. 18 „Abwehrmechanismen“.

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Es handelt sich um einen Sophismus (Scheingrund). Es fragt sich hier, ob das Verdikt von Goethe Geltung hat: „wer die menschen betrügen will, musz vor allen dingen das absurde plausibel machen.“ (Wikipedia).

Es gibt auch die Möglichkeit, als pseudo-plausibles Kontern das „argumentum ad hominem“ anzuwenden. Des Weiteren sind unredliche Unterstellungen des angeblich Gewollten oder Gesagten eine Möglichkeit, die objektive Würdigung eines kritischen Sachverhalts zu verhindern.

 

1. Beispiel

Ein Richter hat ein Gerichtsurteil zu fällen bzgl. einer Autofahrerin,

die aufgrund eines Schlenkers auf die Gegenfahrbahn geriet und auf diese Weise einen anderen Autofahrer ins Jenseits beförderte. Die Autofahrerin war nicht betrunken und auch sonst nicht unzurechnungsfähig. Sie erhielt wegen fahrlässiger Tötung eine Geldstrafe von 4000 €. Der Richter begründete sein „mildes Urteil“ damit, dass „keine Strafe der Welt einen Menschen wieder lebendig machen“ kann.

(Gießener Anzeiger vom 20.12.12, Seite 25. Mit der Überschrift: „Kurzer Moment entscheidet über Leben und Tod“).

Das Argument des Richters würde eigentlich die gesamte Strafjustiz überflüssig machen und seine eigene institutionelle Position weitgehend ad absurdum führen. (Vgl. das Thema Strafzwecktheorien). Es geht ja nicht darum, durch Strafe etwas ungeschehen, sondern als eine ihrer wesentlichen Funktionen darum, analoge zukünftige Geschehnisse weniger wahrscheinlich als ohne Strafe zu machen. Man fragt sich, wozu ein Prädikatsexamen bei Juristen gut ist.

Offenbar existiert das Phänomen, dass heutzutage erstaunlich milde Urteile bei schweren Verkehrsdelikten gefällt werden. Was dahinter steckt, darüber kann man spekulieren. Aber gleichgültig, was dahinter steckt: dass ein schuldhaft um die Ecke gebrachter Verkehrstoter mit dem Betrag von 4000 € justizmäßig aufgewogen wird, kann offenbar nur mit haltloser, Argumentation gerechtfertigt werden.

2. Beispiel

Grünen Vorsitzender Nouripour argumentiert gegen Waffenstillstand in der Ukraine

Die Wochenzeitung „Zeit Online“ veröffentlichte am 29.06.22 einen Apell mehrerer deutscher Intellektuellen zum Krieg in der Ukraine mit dem Titel „Waffenstillstand jetzt!“  Dazu heißt es bei rnd (Redaktionsnetzwerk Deutschland) vom 04.07.22 „Grüne kritisieren Verfasser“. Und es wird einer der beiden Parteivorsitzend*Innen der Grünen, Omid Nouripour, nach einer Sitzung des Parteivorstands in Berlin zitiert. <Nouripour sagte, dieser Aufruf stamme von Menschen, die „bequem auf der Couch sitzend“ wohl angesichts der verstörenden Bilder aus der Ukraine die Geduld verloren und daher beschlossen hätten, „dass es jetzt mal genug ist und dass es jetzt mal aufhören muss“ mit dem Krieg.> Hier hat man also ein ‚argumentum ad hominem‘, das es gestattet, nicht ernsthaft auf die vorgebrachten Argumente der Autoren des Appells eingehen zu müssen. Ebenso unqualifizierte Unterstellungen sind die anderen vorgebrachten Ansichten Nouripours: 

(1.) <Gleichzeitig fehle ihm aber ein Stück weit das Verständnis für Leute, die der Meinung seien, den Menschen in der Ukraine sagen zu müssen, „ob ihr Kampf jetzt richtig ist oder nicht“.> Offenbar kann er nicht richtig lesen, was in dem Appell tatsächlich steht: es wird ja nicht einfach an die Ukraine appelliert, sondern besonders an Europa <den Frieden auf dem Kontinent wiederherzustellen und ihn langfristig zu sichern.> Dass seine Partei, bzw. er selber, eine eigene Ansicht vertritt, formuliert Nouripour folgendermaßen: „Wer Menschenleben schützen will, muss jetzt der Ukraine beistehen.“ Aber was heißt „beistehen“? Das wollen die Autoren des Appells ebenfalls. Wo ist die Differenz? An dieser Stelle wäre ja ein Ansatz gewesen, dass die Grünen genauer ihre Kriegsposition gegenüber der Waffenstillstandsposition begründend dargelegt hätten. Das aber wollen sie mit der hier dargelegten ideologischen Argumentation offenbar vermeiden. Sie hätten sich mit dem folgenden Wortlaut des Appells argumentativ auseinandersetzen können: <Die westlichen Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, müssen sich deshalb fragen, welches Ziel sie genau verfolgen und ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind. Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint.>

(2.) Weitere Unterstellungen: <Da aber niemand sagen könne, ob nicht womöglich der nächste Krieg drohe, falls die Ukrainer die Waffen strecken sollten, sei es aber friedenspolitisch unlauter, einfach zu sagen: „Wir ducken uns weg.“> Bedeutet „Waffen strecken“ (also Kapitulation) das gleiche wie Waffenstillstand als wichtiger Schritt hin zu einer möglichen Friedenslösung? Und bedeutet das Hinwirken auf einen Waffenstillsand für „uns“ (also den Westen oder auch Deutschland), dass man sich vor dem Ukraine-Russland – Problem, oder überhaupt dem Russland-West-Europa - Problem „wegducken“ möchte?

 3. Beispiel

SPD-Ausschluss von Schröder wg. Putin

Auch in diesem Beispiel geht es wieder um Verhandlungen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder sollte aus der SPD ausgeschlossen werden. Dazu heißt es im ‚Gießener Anzeiger‘ vom 9. August 2022, S.1 als Titel: „Schröder bleibt – voerst“. Untertitel: „Kommission: Nähe des Altkanzlers zu Russland kein Verstoß gegen Parteiordnung / Streit geht weiter“. Im Text dann: „Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hatte Schröder wegen dessen Äußerung zum Ukraine-Krieg bereits vor Monaten nahegelegt, aus der Partei auszutreten.“

Worauf ich nun speziell hinaus will, ist der Schluss des Zeitungsartikels.

Dort heißt es: <Esken hatte Schröder für seine jüngsten Äußerungen über eine angebliche Verhandlungsbereitschaft von Russlands Präsident Putin im Ukraine-Krieg scharf kritisiert. „Gerhard Schröder agiert nicht als Ex-Kanzler, sondern als Geschäftsmann, und so sollten wir seine Äußerungen auch interpretieren“, sagte sie. „Mit allem was er tut und sagt, handelt er im eigenen Interesse und in dem seiner Geschäftspartner.“>

Das ist ja nun ein bilderbuchmäßiges ‚argumentum ad hominem‘: Frau Esken verweigert die inhaltliche Auseinandersetzung bzgl. der Frage, ob das, was Schröder vorbringt, tatsächlich ernst zu nehmen ist (was natürlich im bejahenden Falle von enormer Konsequenz für die Politik der Bundesregierung bzgl. des Ukraine-Krieges sein könnte oder sogar sein müsste). Stattdessen wird das Argument Schröders von vornherein nicht ernst genommen, indem „the character or circumstances of an individual who is advancing an argument is criticized instead of seeking to disprove the argument provided.“ (Logic Homepage). Und wenn man bedenkt, welch erstklassiger Vermittler, zumindes Berater, Schröder – wg. seiner Konnexion mit Putin – bezüglich Verhandlungen darstellt, ist das Verhalten von Esken doppelt aufschlussreich: wir wollen den Krieg und keine Verhandlungen mit Putin! (und wenn ein noch so kompetenter und wichtiger Typ wg. Verhandlungen dahergeschneit kommt). Das wird aber nicht offen zugegeben sondern wird verbrämt mit Hilfe ideologischer, d.h. haltloser, Argumentation. Hier zeigt sich die Linie der SPD ganz analog zur Linie der Grünen im obigen 2. Beispiel. Und hinter solcherlei ideologischer Verbrämung verbirgt sich nach meiner Theorie bzgl. ideologischer Argumentation ein moralisches Defizit. (Siehe in der Einleitung/Vorwort Karl Popper).

 

 

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No. 22 - Per Macht- oder Autoritätsdekret bestimmen, was die Wahrheit ist

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Bedeutung (‚für sich‘)

Dient dazu, eine bestimmte Richtung bzw. deren Argumente nicht ernst zu nehmen.

Soll für den unwahren Konsens sorgen (vgl. No.11). Dient auch zum Mobben einer unliebsamen (beispielsweise politischen) Richtung (vgl. No.16 - als Außenseiter ausgrenzen).

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Verstößt gegen die Pragma-dialektische Regel 3: Ein Widerlegungsversuch muss sich tatsächlich gegen das Argument der Gegenpartei richten,  das in der Diskussion geäußert worden ist.

 

1. Beispiel

Wahl des deutschen Bundespräsidenten 2010.

Als Kandidaten gibt es Wulff (vom Regierungslager CDU/CSU/FDP) vs. Gauck (SPD/Grüne). Da im Regierungslager eine gewisse Uneinigkeit herrschte, hätte Gauck die Wahl gewinnen können, wenn ‚die Linken’ ihn ebenfalls unterstützt hätten. Offenbar deswegen, weil Gauck ehemaliger Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Stasi war, wird offiziös gefolgert: Die Linken („die ewig Gestrigen“) konnten sich nicht von ihrer Stasi-Vergangenheit lösen („sie konnten nicht über ihren SED-Schatten springen“), sie habe sich nicht von ihrem alten SED- und Stasi-Erbe befreien können.

Die Linken (Gysi, Lafontaine et al.) jedoch hatten ihre eigenen Argumente, auf welche jene offiziösen Verlautbarungen nicht eingehen. Denn sowohl Gauck hat nix für die Linken als solche übrig, er ist Konservativer, und umgekehrt wird Gauck von den Linken kritisiert: Er befürworte beispielsweise Sozialabbau und den Afghanistan-Einsatz. Ihre Argumente werden schlicht nicht ernst genommen, es wird offiziöserseits nicht für nötig gehalten, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Vor allem nicht damit, dass ihre Meinung zu einem etwaigen gemeinsamen Kandidaten nicht eingeholt wurde. Damit wird per offiziösem Machtdekret durchgepaukt, wie die historische Wahrheit auszusehen hat: d.h. warum eigentlich, d.h. ‚in Wahrheit’, Gauck nicht von den Linken bei der Bundesversammlung am 30.06.10 unterstützt wurde.

2. Beispiel

Offenbar im einflussnehmenden Zusammenhang mit einem bevorstehenden, strittigen

Entscheid des Stadtparlaments zur Art der Restauration bzw. Abriss und Modernisierung der alten Gießener Bahnhofstreppe,

erschien in einer der beiden Gießener Hauptzeitungen ein Artikel über die Architekten-Autorität Birger Rohrbach mit einschlägigen Zitaten. Qua Architekt weiß er genau, was die eigentliche Erklärung für den Wunsch diverser Bürger nach Rekonstruktion alter Gebäude ist (z.B. Gießener Bahnhofstreppe, Berliner Stadtschloss, mittelalterliche Fachwerkhäuser am Frankfurter Römer): „Die Menschen haben wenig Vertrauen in die Moderne. Die Zeiten sind ihnen zu schnell, das Leben ist ihnen zu hektisch. Die gute, alte Zeit, als alles noch überschaubar war, soll heraufbeschworen werden.“ Obwohl dies im alltäglichen Leben nicht funktioniere, werde die Berücksichtigung dieser Gefühle jedoch von der Architektur abverlangt.

(Artikel von Erhard Goltze: „Wenig Vertrauen in die Moderne“. Architekt Birger Rohrbach über die Frage, wie historische Bausubstanz und zeitgemäße Architektur korrespondieren können. In: Gießener Anzeiger, 19.07.10, S.9).

Die Frage, welche Argumente irgendwelche Befürworter jener Rekonstruktionen tatsächlich haben, interessiert Birger Rohrbach offenbar nicht die Bohne. Es wird einfach per offiziösem Architekten-Autoritäts-Dekret über sie hinweg geurteilt, was sie eigentlich, d.h. ‚in Wahrheit’, (Minderwertiges) denken und fühlen. Moderne Bürger, speziell die Verantwortlichen im Stadtparlament, sollten es sich wohl überlegen, ob sie sich solchen Hinterwäldlern anschließen wollen!

 

 

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No. 23 – Auf gesellschaftlicher Konvention beruhende Intersubjektivität - als ausschließliches Objektivitäts- bzw. Wahrheitskriterium

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Bedeutung (‚für sich‘)

Es geht dabei weniger um die Gegenstandsadäquatheit, sondern primär darum, eine bestimmte (meist offiziöse) Meinung als quasi ‚selbstverständlich‘ zu etablieren und notfalls jemanden mundtot zu machen, weil alle (meist offiziösen) relevanten Leute das anders sehen. Wer das nicht so sieht, ist eben irrelevant oder wird in Richtung Irrelevanz gesellschaftlich ausgegliedert. Aufgrund ihrer dogmatischen Einseitigkeit ist diese Methode a priori antipluralistisch.

Ist eng verwandt mit No.22: Per Macht- oder Autoritätsdekret bestimmen, was die Wahrheit ist.

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Es handelt sich um die Fallacy argumentum ad populum, bei dem etwas als wahr behauptet wird, einfach weil es der Meinung einer Mehrheit von Personen entspricht – am besten noch mit (‚relevanten‘, d.h. institutionellen) ‚Autoritätspersonen‘ angereichert.

 

1.Beispiel

Der Chemie-Nobelpreisträger von 2011, Daniel Shechtman.

Englische Wikipedia: <Shechtman experienced [erlebte] several years of hostility [Feindseligkeit] toward his non-periodic interpretation (no less a figure [kein Geringerer] than Linus Pauling said he was “talking nonsense” and “There is no such thing as quasicrystals, only quasi-scientists.”

The head of Shechtman’s research group [Forschungsgruppe] told him to “go back and read the textbook [Lehrbuch]” and then “asked him [auffordern] to leave for ‘bringing disgrace [Blamage, Schande]’ on the team.” – Shechtman felt rejected.>

2.Beispiel

Schopenhauers Eristische Dialektik“, Kunstgriff 30 (die Mehrheit der Ja-Sager ist im Recht)

<…denn hatte die Meinung erst eine gute Anzahl Stimmen für sich, so schrieben die Folgenden dies dem zu, daß sie solche nur durch die Triftigkeit ihrer Gründe hätte erlangen können. Die noch Uebrigen waren jetzt genöthigt, gelten zu lassen was allgemein galt, um nicht für unruhige Köpfe zu gelten, die sich gegen allgemein gültige Meinungen auflehnten, und naseweise Burschen, die klüger sein wollten als alle Welt. Jetzt wurde die Beistimmung zur Pflicht.  Nunmehr  müssen  die  Wenigen,  welche  zu  urtheilen  fähig  sind,  schweigen:  und  die  da reden  dürfen,  sind  Solche,  welche  völlig  unfähig,  eigene  Meinungen  und  eigenes  Urtheil  zu  haben,  das  blosse Echo  fremder  Meinungen  sind;  jedoch  sind  sie  desto  eifrigere  und  unduldsamere  Verteidiger  derselben.  Denn sie hassen am Andersdenkenden nicht sowohl die andere Meinung, zu der er sich bekennt, als die Vermessenheit, selbst urtheilen zu wollen; was sie ja doch selbst nie unternehmen und im Stillen sich dessen bewußt sind.

Kurzum denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben; was bleibt da Anderes übrig, als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Anderen aufnehmen?>

(Die Eristische Dialektik gibt es vollständig bei Projekt Gutenberg)

3.Beispiel

Massensuggestion – Rolle der Presse bzgl. Politik

<Unter den Gegenständen, auf welche die Menschen hinstarren müssen, um in Hypnose zu geraten, ist keines so kräftig wie die Druckerschwärze, Sie wird ihnen in der Politik in Gestalt von Zeitungen dargeboten.
Schon Napoleon I. erkannte in einer Zeit, da die Presse noch sehr beschränkt war, ihre Bedeutung und sorgte persönlich dafür, daß seine Ansichten in den „Moniteur" kamen. Heute aber, wo die Sintflut der Blätter immer höher steigt, sind wir alle mehr oder weniger im Banne der suggestiven Kräfte, die hinter der Presse stehen, Sie machen die sogenannte „öffentliche Meinung" und zwar so schnell, daß sehr häufig gleich nach dem gemeldeten Ereignis die „öffentliche Meinung" in die Welt hinausgefunkt wird. Wer sie ersann —  ein Herr X oder ein Herr Y — das erfahren wir gewöhnlich nicht und das ist auch gar nicht wesentlich.
Der Bürger, welcher mit der Zeitung den Tag beginnt und beschließt, weiß schon, daß seine Zeitung, welche seine Partei vertritt, die richtige Meinung haben muß. Ob das immer zutrifft, ist allerdings zweifelhaft.>

(Quelle: Christian Beyel: Über Massensuggestion. Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur, Band (Jahr): 4 (1924-1925). Heft 10, S. 612) [Hinweis: Aufruf funktioniert über Google]

Siehe dazu auch No.36, Beispiel 2 (Hetzkampagnen) sowie das Thema Lügenpresse/Lückenpresse.

 

 

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 No. 24 - Individualisierung allgemeingesellschaftlicher Probleme

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Bedeutung (‚für sich‘)

Dient dazu, von den wirklichen gesellschaftlichen Hauptproblemen abzulenken. Soll den gesellschaftlichen Status quo vor Kritik bewahren.

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Fallacy Red Herring: Zur Ablenkung wird ein Element eingeführt, das den Fokus von der eigentlich zu verhandelnden Sache auf eine andere überträgt: eine 'falsche Fährte' wird gelegt. In der  Politik ist der Red Herring ein Propagandainstrument, um zu desinformieren. (Wikipedia)

 

1. Beispiel

<Nicht falsche Ernährung, sondern mangelnde Bewegung führt laut einem deutschen Mediziner zu immer mehr übergewichtigen Kindern.

Seiner Ansicht nach essen sie heutzutage sogar weniger als vor 20 Jahren … Wenn man den Trend in Richtung amerikanische Verhältnisse stoppen oder gar umkehren will, müssten die Kinder laut Lentze wieder in Bewegung gesetzt werden und sich etwa in Sportvereinen austoben können.> <Dies erklärte Michael Lentze vom Bonner Zentrum für Kinderheilkunde bei einem Pressetermin in Genf.> Quelle: sciencev1.orf.at/science/news/143746

Früher in den 50 er Jahren, musste man uns Kinder nicht in Sportvereine schicken, damit wir uns austoben konnten! Da gab es noch genügend Freiraum der mittlerweile total beschnitten ist: frei zugängliche Kriegs-Trümmer, Wald & Feld, Neubauten, Müllplätze, Bunkeranlagen, Bergwerksstollen, alte Burgen, alte Bergwerke, vor allem Flüsse, wilde Zeltplätze, Gärten zum klauen von Obst, usw. Die ganze Stadt samt ihrer Umgebung stand uns zur Verfügung! Und mir sind keine Kinder bzw. irgendwelche Jugendliche der damaligen Zeit begegnet, die übermäßig fett waren. Ja gut, ein Mädchen in meiner Mittelschulklasse war richtig fett. Das war aber die totale Ausnahme.

Das Problem ist also kein individuelles Problem der Kinder, die zu viel vor dem TV sitzen oder am Computer herum daddeln, sondern die moderne gesellschaftliche Beschneidung der äußeren Freiheitsspielräume für Kinder und Jugendliche. Dass die gewinn-orientierte Industriegesellschaft die entsprechenden Surrogate nur allzu gerne zur Verfügung stellt, wenn sich dadurch Absatz ergibt,  ist ja wohl logisch. Eines der Folge-Probleme (Übergewicht) wird nunmehr in ein individuelles Schuldproblem umgemünzt, dass die Kinder sich nicht in (von Erwachsenen regulierten) Sportvereinen “austoben”.

 

2. Beispiel

Systemische (Familien-) Therapie

Die ‚Systemische Therapie‘ betrachtet den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil von sozialen Systemen - speziell der Familie, aber auch einer Gesellschaft (oder Kultur) insgesamt. Entsprechend wird in der systemischen Perspektive ein psychisches Symptom nicht als Krankheit einer einzelnen Person betrachtet, sondern als Ausdruck einer Gestörtheit des Systems, das sich als Dysfunktion in den Beziehungen und Interaktionsmustern darstellt. Nicht das Individuum als solches ist ‚gestört‘, sondern das Individuum mit dem Störungssymptom ist lediglich der ‚Symptomträger‘ der Gestörtheit der Kommunikation und Interaktion des bezüglich des Symptoms relevanten Systems.

Robert Castel, ein französischer Soziologe, der in den 70er Jahren Psychoanalyse und Psychiatrie von einer Meta-Perspektive aus beleuchtete, kritisierte die Tendenz, psychische Probleme zu individualisieren und die sozialen Kontexte, in denen sie entstehen, zu vernachlässigen. Castel sah ‚psychische Symptome‘ (also das, was in der Regel bestenfalls individuell psychotherapiert wird) als Ausdruck eines komplexen Zusammenspiels von individueller Not und den gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen, die diese Not formen. – Im Grunde genommen, ist ja auch eine Familie mit ihren Problemen wiederum Teil eines problematischen Gesellschafts-Systems.

Siehe dazu No.50-Beispiel 2 (Rolle des Sündenbocks)

 

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No. 25 - Entscheidende Erklärungs-Determinanten nicht mitberücksichtigen

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Bedeutung (‚für sich‘)

Dient dazu, von den wirklichen Hauptproblemen abzulenken. Soll z.B. den gesellschaftlichen Status quo vor Kritik bewahren.

[Verwandtschaft mit No.35 (Differenzierung verhindern) und No.48 (Propaganda)]

Haltlosigkeit (‚an sich‘)

Die Objektivität der Darstellung wird durch Ausblenden relevanter Tatsachen des Sachverhaltes verhindert, indem (‚ungehörige‘, unliebsame, negative) Aspekte weitgehend oder sogar systematisch ignoriert werden.

 

1. Beispiel

Bezüglich einer Berliner dpa-Meldung heißt es im “Gießener Anzeiger” vom 11.08.10, S.1:

<Nur 14 Prozent leben gesund. Experten schlagen Alarm – Bürger ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig>.

In dieser ‘Studie’ von 2010 der “Kölner Sporthochschule” gibt es 5 Determinanten: 1. Bewegung (hauptsächlich also Sport aber auch körperliche Arbeit) 2. Ausgewogenes Essen (das berühmte “Obst und Gemüse”) 3. Dann natürlich König Alkohol und 4. Das teuflische Rauchen, schließlich 5. Interessanterweise auch Stress.

Genaueres, was denn nun das Ungesunde ausmache – und in welchen Relationen zueinander – findet man nicht in den üblichen Presseberichten zu dieser Studie. Das wird offenbar wie selbstverständlich vorausgesetzt (Vgl. z.B. den etwas ausgiebigeren und ansatzweisen kritischen Bericht: Vom Stern.de). 

Unter ‘Stress’ kann man viel verstehen: zählen in der Studie dazu auch Beziehungsprobleme? Psychosomatische Probleme (aufgrund von sozialer Widersprüchlichkeit)? Was verstehen die Befragten unter Stress? Inwiefern sind deren Antworten (wissenschaftlich) sinnvoll? – Und last not least – würden sich denn auch die Medien für solche Differenzierungen, wenn sie in jener öffentlichwirksamen ‘Studie’ tatsächlich stattfänden, interessieren?

Und was heißt ‘gesund leben’? Gibt es nicht auch sowas wie Sportunfälle und Arbeitsunfälle oder auch jede Menge Unfälle im Straßenverkehr? Wird beispielsweise die Anzahl der Teilnahmen am Straßenverkehr (mit Auto, Fahrrad, Motorrad) bei der Studie mit gewichtet?

Diese Fragen weisen darauf hin, dass bei jener Studie, allem Anschein nach, das Augenmerk für Gesundheit offenbar ziemlich einseitig auf sozusagen gesellschaftlich ‘genehme’ Faktoren (möglichst individuelle – vgl. No. 24) gelegt wird, während andere (gesellschaftlich offiziös unangenehme, jedoch) wesentliche Faktoren (wie miserable Beziehungen, Psychosomatik, Unfallträchtigkeit) nicht wirklich mit in den Fokus kommen.

2. Beispiel

Tricky können auch statistische Umfragen bzgl. relevanter politischer Themen sein.

Ausnahmsweise geht der „Gießener Anzeiger“ auf solch ein merkwürdiges Verfahren ein:

<“Gießen Trends“ befragt aber nicht nur Bürger, sondern am Ende der Umfrage stets auch seine Interviewer. Dabei ergab sich, dass viele Menschen im Gießener Land sich nicht recht entscheiden mochten, weil sie die Asylbewerber sowohl als „Bereicherung“ wie auch als „Problem“ wahrnehmen, und daher notgedrungen mit „Egal“ antworteten.>

(Gießener Anzeiger vom 06. April 2016, Seite 18 mit der Überschrift: <Flüchtlinge „Bereicherung“ und „Problem“ zugleich>)

Kurios, wenn Leute, die möglicherweise eine differenzierte Antwort, also entscheidende Erklärungs-Determinanten von unterschiedlichen Vorstellungen über Asylbewerber parat haben, mit „Egal“ antworten müssen! Genau diesen wäre sehr wahrscheinlich eine adäquate Antwort keineswegs „Egal“!

Indem diese ‚Lösung‘ mangelhafter Fallunterscheidung [siehe dazu auch No. 48 – Mangelnde Fallunterscheidung als wesentliches Element von Propaganda] in die Form pseudo-objektiver Statistik verpackt wurde, wird vermieden, dass differenzierende Fragestellungen zu dem Thema in dieser Umfrage behandelt werden, sondern stattdessen lediglich zwei grobschlächtige Gegenüberstellungen von Für und Wider und deswegen des Weiteren auch noch fragwürdige Schlussfolgerungen gezogen werden. Z.B. da die Mehrheit der Ablehner sich zu 82% vor allem als Deutsche sehen (bei den Befürwortern nur 28%), wird messerscharf gefolgert: „Ein deutliches Indiz dafür, dass mehrheitlich nicht soziale, sondern Überfremdungsängste bei Flüchtlingsskepsis ausschlaggebend sind.“ Was ist aber, wenn bei den gefakten Egal-Leuten und den 16%, die zu der verqueren Fragestellung überhaupt keine Angaben machen wollten, nun eine erhebliche Menge „Weltbürger“ oder „Europäer“ (wie bei 33% der Befürworter) zählen würden?

(Dieses 2.Beispiel ist eng verwandt mit No.35: „Entscheidende Differenzierung verhindern“. Zum Thema ‚mangelnde Fallunterscheidung‘ siehe insbesondere auch No. 48-Propaganda).

3. Beispiel

Das Folgende passt in die Rubrik:

‚Utopische Ignoranz‘

(Thilo Sarrazin in “Wunschdenken“, 2016),

was bedeutet, dass man aus Gründen einer anvisierten Gesellschafts-Utopie unliebsame Fakten unterdrückt.

In einem Leserbrief in der Zeitschrift „Publik Forum – kritisch-christlich-unabhängig“ Nr. 10/2016, Seite 58 schreibt Hans Schröder, Neustadt, zum Thema ‚Muslime in Deutschland‘ und bezieht sich dabei auf einen Artikel der Zeitschrift 8/16, Seite 9 mit der Überschrift „Islam und Grundgesetz – geht das?“

<Das Interview mit Frau Schröter ist für mich ein weiterer Beleg, dass zu diesem Thema für Ihre Zeitschrift gilt, dass nicht sein soll, was nicht sein darf. Da ist kein Wort von einer kürzlich in der FAZ veröffentlichten Umfrage, dass circa zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Muslime die Scharia über die deutsche Rechtsnorm stellen. Da ist kein Wort über die muslimische Parallelgesellschaft, in der Rechtsbrüche, die nach deutschem Recht strafrechtlich verfolgt werden müssten, durch muslimische „Richter“ untereinander geregelt werden.>

4. Beispiel

Von besonderer politischer Relevanz – speziell im Zusammenhang mit „brisanten Themen“ (siehe dazu https://www.manfred-aulbachs-reflexionsjournal-ab-2021.de/html/brisante_themen.html) - ist

das Phänomen der monokausalen Argumentation

Was versteht man darunter?

Karl Acham, in seinem Buch „Philosophie der Sozialwissenschaften“ (Karl Alber Freiburg/München, 1983, S. 141 f.) erläutert dies folgendermaßen:

<Die Geschichte der bisherigen Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften ist eine Geschichte der – heuristisch mitunter durchaus fruchtbaren – Überschätzung der Bedeutung eines bestimmten Faktors der Erklärung sozialen Handelns. Am deutlichsten tritt dies im Rahmen von kontroversiellen Erörterungen hervor, bei denen es um die Ursachen von Erscheinungen geht, wobei die Kontrahenten versuchen, einen Faktor, dem man aus irgendwelchen Gründen besondere Bedeutsamkeit zuschreibt, so zu interpretieren, als sei er der einzige Faktor.> (S.141).

 

Relevant als ideologische Argumentation ist dabei insbesondere der Effekt der polarisierenden Argumentation (es gibt nur Schwarz oder Weiß) und der Nullsummenargumentation (mein Gewinn ist notwendigerweise dein Verlust) – siehe No.18 – polarisierende Argumentation und Nullsummenargumentation.

Es handelt sich dabei um eine Erklärungspraxis,

<der die Annahme zugrunde liegt, daß derjenige, der bei bestimmten Gelegenheiten von der Wichtigkeit eines bestimmten Faktors A spricht, damit schon die Wichtigkeit oder kausale Relevanz der Faktoren B, C… verwirft.>

Als Beispiel bringt Acham ein Zitat von Ossowski (aus: „Die Wissenschaft von der Wissenschaft, Warschau 1936, neu aufgelegt Warschau 1967) welches jene ideologische Nullsummenargumentation beleuchtet – es geht um:

<…Vorwürfe, die auf der Unterstellung beruhen, daß jemand, der einen Zusammenhang formuliert, damit andere Zusammenhänge leugnet. Die Kritik an den psychoanalytischen Theorien wurde [von seiten irgendwelcher Marxisten, Anm. M.A.] so gefaßt, als bestünde ein Widerspruch zwischen dem prägenden Einfluß der Familiensituation und der frühen Kindheit auf die Entwicklung des Individuums und seiner Stellung im Klassensystem.> (Ossowski 1967 S. 109f.)

Was hier gemeint ist: das eine muss ja das andere nicht ausschließen! Sowohl die Stellung im Klassensystem ist ein prägender Einfluß auf die Entwicklung der Kindheit als auch die Familiensituation. Jedoch findet letzteres keinen Ort innerhalb der marxistischen Ideologie und darf deshalb keine Geltung beanspruchen.

 

Wie man erkennt, spielen bei der ideologischen monokausalen Argumentation unbewusste Abwehrmechanismen eine Rolle. Ich denke, es handelt sich auch hier um eine Primärprozess-Argumentation (siehe No.39), insofern als das primitive (gefühlsmäßig sich aufdrängende) Schwarz-Weiß-Denken nicht berichtigt wird, weil dies dem Argumentierenden nicht ins dogmatische Korsett passt.

 

 

 

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