No. 26 - Suche nach vermeintlichen Schwachstellen, um daraus einen Strick drehen zu können – statt ernsthafter argumentativer Auseinandersetzung
___________________________________
Bedeutung (‚für sich‘)
Dient dazu, “unbequeme Zeitgenossen zum Schweigen zu bringen” (Formulierung der “Märkischen Allgemeinen” zum Fall Sarrazin lt. “Gießener Anzeiger” vom 3.9.10). Ist verwandt mit No.01 (“Bote schlechter Nachrichten”), mit No.15 (Tabugrenzen bei Debatten errichten), mit No.16 (“Als Außenseiter ausgrenzen”).
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
- Verstößt gegen die Pragma-Dialektik (1) ‚Freedom Rule‘: Uneingeschränktes Recht Meinung zu äußern. Der Sprecher darf nicht gehindert werden, Standpunkte vorzubringen oder Standpunkte anzuzweifeln.
- Indikator für das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin), welches sich vor allem durch systematische Kritikimmunisierung auszeichnet. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung. Dazu gehört dann notwendigerweise alles, was nicht in die Festung gehört, auszugrenzen.
1. Beispiel
Der Fall Thilo Sarrazin im Stadium der Hetzkampagne vom 28.08.10
<Dass die Chancen auf einen Erfolg bei einem neuen Parteiausschlussverfahren keineswegs größer sein dürften ist den Genossen klar. Was Sarrazin aktuell schreibe, stelle keine neue Qualität gegenüber früheren Äußerungen dar, etwa eindeutigen Rassismus. Deshalb soll das Buch jetzt von vorne bis hinten genau analysiert werden, ob es eine Handhabe gegen den unliebsamen Parteifreund hergibt.>
(Artikel von Christoph Slangen im “Gießener Anzeiger” vom 28.08.10, S.2 mit dem Titel “Ein ganz unbotmäßiges Parteimitglied”).
Im Stadium der Hetzkampagne ab dem 30.08.10
konnte ihm endlich der Strick gedreht werden. Hatte er doch auf die Frage eines Interviewers der “Welt am Sonntag”, ob es außer der kulturellen auch eine genetische Identität gebe die Antwort gegeben: “Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.” (Gießener Anzeiger vom 30.08.10, S.2 unten). Nunmehr war endlich ‘bewiesen’, dass Sarrazin ein “Rassist” ist. Die Hetzjagd konnte sich steigern. So heißt es besonders krass, aber durchaus noch im gegebenen Rahmen jener Hetzkampagne, in Antifa vom 31.08.10 [Link ist tot] mit der Überschrift “Rassist Sarrazin kommt ins Literaturhaus München – Auftritt verhindern”: <Liebe AntirassistInnen, der widerliche rassistische, antisemitische (da er JüdInnen als genetischfestgeschriebene Gruppe von Menschen definiert) und sozialdarwinistischeMedien-Zampano Thilo Sarazzin will am 29.September mit einem Auftritt im Literaturhaus die Münchner Öffentlichkeit belästigen. Die GenossInnen aus Rosenheim meinten ganz richtiger Weise, dass dieser Auftritt nichtstattfinden sollte.> - Inwieweit die Äußerung zu den Genen harmlos ist oder nicht, wurde üblicherweise nicht debattiert. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sarrazins Äußerung findet sich bei Andreas Vonderach: Haben Völker eine genetische Identität? Üblicherweise wird außerdem bei der Hetzkampagne die Sache mit den Genen nur noch ausschließlich auf die Juden bezogen, offenbar um ihm Antisemitismus unterstellen zu können. (Nicht auch noch Antibaskizismus, was doch genauso nahe liegen würde). Wie er es tatsächlich meinte, kann man in Focus online vom 2.9.10 [Link ist tot] nachlesen: <Eigentlich habe er in dem Interview der „Welt am Sonntag“ nur auf allgemeine genetische Ähnlichkeiten hinweisen wollen. Die Juden seien ihm als erstes eingefallen, weil er dazu gerade etwas gelesen habe. „Ich hätte sagen sollen, Ostfriesen oder Isländer, dann wäre es kein Thema gewesen“, sagte er. Sarrazin bezeichnete es als „Dummheit“, dass er diese Äußerung im Interviewtext nicht nachträglich gestrichen habe. „Das war mein Blackout“, sagte er. Er habe sich von der Zeitung „aufs Glatteis“ führen lassen.>
2.Beispiel
Wirbel um Äußerungen des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzek zur Deutschen Wiedervereinigung
20 Jahre danach: <Er hatte eine “Anschlusshaltung” auf der westdeutschen Seite beklagt, die nach 1990 im Osten verantwortlich für viele gesellschaftliche Verwerfungen gewesen sei. Platzecks Wortwahl sorgt für Protest selbst von Seiten politischer Weggefährten. Den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit dem “Anschluss” Österreichs an Nazi-Deutschland in Verbindung zu bringen, sei schon 1990 “vollkommen abwegig gewesen”, kritisierte Richard Schröder, vor 20 Jahren Chef der SPD-Fraktion in der DDR-Volkskammer. … Brandenburgs Grünen-Chefin Annalena Baerbock sagte, der Ministerpräsident schüre “auf Stammtischniveau die Emotionen zwischen Ost und West”.>
(Artikel von Rasmus Buchsteiner im “Gießener Anzeiger” vom 1.9.10, S.2 mit dem Titel: “Die deutsche Einheit und die gefühlte deutsche Einheit”).
______________________________________
No. 27 - Schutzgelderpressung – bzw. vorauseilenden Gehorsam abverlangen
__________________________________
Bedeutung (‚für sich‘)
Der Argumentierende soll sich gehorsam im Rahmen von Argumentations-Unfähigen bzw. –Unwilligen bewegen und diesen unterwerfend gefällig sein. Er wird zu diesem Gehorsam erpresst, ansonsten droht ihm ein falsches, vorurteilsvolles Verständnis irgendwelcher, dem (halbamtlich- öffentlichen) Geist zuwiderlaufenden, Formulierungen (Siehe auch oben No. 26-Suche nach vermeintlichen Schwachstellen).
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
- Fallacy: Argumentum ad baculum (argument with the stick).
- Verstößt gegen die Pragma-Dialektik (1) ‚Freedom Rule‘: Uneingeschränktes Recht Meinung zu äußern. Der Sprecher darf nicht gehindert werden, Standpunkte vorzubringen oder Standpunkte anzuzweifeln.
- Indikator für das geschlossene geistige System (eine dogmatische Doktrin), welches sich vor allem durch systematische Kritikimmunisierung auszeichnet. Die Institutionen, die jenem System zugehörig sind, igeln sich geistig ein, wie in einer Festung. Dazu gehört dann notwendigerweise alles, was nicht in die Festung gehört, auszugrenzen.
1. Beispiel
<Natürlich hat
Sarrazin mit dem hanebüchenen Juden-Vergleich
derart überzogen, dass er schleunigst in Rente gehen sollte. Und zwar freiwillig, das wäre der beste Dienst, den er uns, sich und seinem Anliegen, sofern er wirklich eines hat, noch erweisen könnte. Im Ruhestand könnte er dann den Fortgang der Debatte verfolgen. … Der Mann ist eine rhetorische Niete und steht trotz aller Polemik auf dem Boden des Grundgesetzes.> (Die Zitate stammen aus dem Kommentar von Lars Hennemann im “Gießener Anzeiger” vom 6.9.10, S.2 mit dem Titel “Schafft Sarrazin ab”).
Zum Thema “Juden-Vergleich” (was hat Sarrazin eigentlich ‘verglichen’?), siehe oben No.26, das 1. Beispiel. Sobald ein politisch angeblich nicht korrektes Signalwort auftaucht, (hier das Wort ‚Jude‘ im Zusammenhang mit Genetik), gibt es ein Raster der Borniertheit, das unbedingt bei einem unbequemen Geist was Schlimmes erschnüffeln will (hier: Rassismus oder gar Antisemitismus). Solcherlei Vorurteilsbildungen sind typisch für spießbürgerliche Borniertheit. Sarrazin selber hat erkannt, dass er hier (mit seinen Juden und Basken) einen Fehler begangen hat, aber doch nur, weil er auf jene öffentliche spießbürgerliche Vorurteilsbereitschaft (beachte auch das verräterische Wörtchen “uns”, wie dies bei dem Kommentator zum Ausdruck kommt), im vorauseilenden Gehorsam nicht genügend Rücksicht genommen hat. – Es ist wie bei der Schutzgelderpressung: der Wirt soll Schutzgeld bezahlen, damit er davor geschützt ist, dass ihm sein Restaurant nicht demoliert wird – und zwar denen gegenüber, die ihm am Ehesten sein Restaurant ansonsten demolieren. – Es geht nicht um etwas Objektives, an und für sich Haltbares, sondern um Willkür, vor der man sich in Acht zu nehmen hat. Die Willkür ist in diesem Argumentations-Trick der Realitätskontrollverlust, d.h. die unkontrollierte negativistische Phantasie autoritärer Spießbürger mit ihrer prä-argumentativen Sprachverwendung einer niederen Geistesstufe. (Siehe dazu ‚Methodologische Fragestellungen‘, Punkt 6).
Verwandtschaft mit No.08 (inquisitorische Situation)
[Anmerkung: Es geht mir hier nicht darum, Sarrazins Ansichten zu verteidigen. Inhalte und Richtungen sind bei der Argumentationstheorie generell nicht das Thema, sondern lediglich die (systematische) Haltlosigkeit einer gegebenen Argumentation. – Wertemäßig gesehen geht es mir, wie jedem wahrheitsliebenden und in diesem Sinne freiheitlich denkenden Menschen, um Artikel 5, Absatz 1 und 3 des Grundgesetzes, wenn man den Sinn dieses Verfassungsartikels (in jenen beiden Absätzen) denn wirklich weitestgehendst sanktionsfrei ernst nehmen würde. – Dementsprechend habe ich keinerlei Sympathie für das Verhalten der SPD Sarrazin gegenüber. Die SPD, die doch in den 70er Jahren (solange es noch den Kommunismus ohne echte Meinungsfreiheit gab und man sich vorteilhaft dagegen absetzen wollte) quasi offiziellerweise meinte, sie stünde auf der Linie des Kritischen Rationalismus von Sir Karl Popper. Also dass diese SPD einen kritischen Geist mit Ausschluss bedroht, statt sich mit seinen Argumenten ernsthaft & redlich öffentlich auseinanderzusetzen.
(Vgl. dazu: “Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie”, herausgeben von Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Speer und Manfred Tietzel. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Berlin, Bad Godesberg 1975. Zweiter Band 1976 und eine Art dritter Band mit dem Titel “Theorie und Politik aus kritisch-rationaler Sicht, 1978.)]
_______________________________________
No. 28 - Bewusste Täuschungsmanöver
_______________________________________
Bedeutung (‚für sich‘)
Dieser älteste aller Tricks geht ganz klar auf Betrug aus. Ein Ahnungsloser soll mit diesem Trick ‚reingelegt‘ werden.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Unwahre Tatsachenbehauptung: Eine Behauptung gilt dann als falsch, wenn sie objektiv nicht wahr ist. Wenn also beispielsweise jemand behauptet, ein anderer hätte eine bestimmte Sache getan und dies tatsächlich nicht stimmt, so ist die Behauptung falsch. Wenn die Behauptung nicht durch Fakten belegt werden kann, so handelt es sich lediglich um eine (haltlose) Verdächtigung oder eine Unterstellung und kann somit nicht akzeptiert werden. Wenn eine Behauptung durch Fakten widerlegt werden kann, so ist sie offenbar falsch.
1.Beispiel
Deutscher Kolonialismus in Südwestafrika
<Die Geschichte der deutschen Herrschaft in ihrer ersten Afrika-Kolonie gehört zu den trübsten Kapiteln der gesamten Kolonialgeschichte. Sie begann, als der Bremer Tabakimporteur Adolf Lüderitz 1883 den Schwarzen vom Nama-Stamm die Bucht von Angra Pequena, die spätere Lüderitzbucht, für 600 englische Pfund und 260 Gewehre abkaufte. Im gleichen Jahr betrog er die Afrikaner vom Bethanier-Stamm, denen er den Küstenstreifen vom Oranje-Fluss bis zum 26. Südlichen Breitengrad in einer Tiefe von 20 geographischen Meilen abhandelte. Vorsätzlich wurden die Afrikaner nicht darüber aufgeklärt, dass eine geographische Meile 7,4 Kilometer beträgt und nicht 1,5 Kilometer, wie die vertraute englische Meile.>
(Aus: Der Spiegel Nr.45/1976, Seite 136. In dem Artikel „Jeder nimmt zehn Schwarze mit ins Grab“, S.130-145., über Deutsche in Namibia, das ehemalige Deutsch-Südwestafrika und die ursprüngliche dortige deutsche Kolonialpolitik zwischen 1883 und 1918.)
2. Beispiel
VW-Abgasskandal, auch bekannt als "Dieselgate"
Bei diesem vorsätzlichen Betrug ging es hauptsächlich um Dieselmotoren des Typs EA 189, die in zahlreichen Modellen von VW, Audi, Skoda und Seat zwischen 2008 und 2015 verbaut wurden. Weltweit waren rund 11 Millionen Fahrzeuge betroffen, davon etwa 2,8 Millionen in Deutschland.
Worin lag der Betrug?
Es gab eine Manipulationssoftware genannt ‚Abschaltvorrichtung‘, die in der Lage war, zu erkennen, ob sich das Fahrzeug auf einem Abgasprüfstand befand (z.B. anhand von Parametern wie Lenkradstellung, Geschwindigkeitsprofil, Dauer der Fahrt, stehende Hinterräder). Auf dem Prüfstand schaltete die Software in einen "sauberen" Modus, in dem die Abgasreinigung optimal funktionierte und die Fahrzeuge die gesetzlichen Grenzwerte für Stickoxide (NOx) einhielten. Im normalen Fahrbetrieb auf der Straße schaltete die Software in einen anderen Modus, in dem die Abgasreinigung reduziert war. Dadurch stießen die Fahrzeuge ein Vielfaches der erlaubten Stickoxid-Emissionen aus – teilweise das Vierzigfache der Grenzwerte. – Die prospektmäßig angegebenen Werte wurden also unter realen Fahrbedingungen nicht getestet, es gab einige Jahre lang nur die Messungen der Abgasprüfstände – also lediglich ‚Labortests‘. Die Täuschung wurde 2014-2015 aufgedeckt, als Forscher der West Virginia University, beauftragt vom International Council on Clean Transportation (ICCT) und der California Air Resources Board (CARB), VW-Dieselautos unter realen Fahrbedingungen testeten.
Der Zweck der Übung war Umsatz, d.h. für die Kunden (vor allem in USA) so zu tun, als ob sie mit „Clean Diesel“ unterwegs seien, obwohl sie dafür nicht viel tun mussten. Die Menge an AdBlue, die lt Gesetz nachgefüllt werden musste, wurde gesetzeswidrig mit diesem Software-Trick reduziert – der Wartungsaufwand und auch der Platzverbrauch (größere, teure Tanks für das AdBlue) waren die Hauptprobleme, die dem verwöhnten (US-) Kunden scheinbar ganz legal erspart werden sollten.
_______________________________________
No. 29 - Bewusstes, vorsätzliches, strategisches Lügen
____________________________________
Bedeutung (‚für sich‘)
Gemeint ist hier das Lügen als strategisch eingesetztes Mittel, um einen Vorteil zu erlangen bzw. um Fehlverhalten zu kaschieren. Es geht darum, das soziale Feld unredlich und skrupellos zu beeinflussen, um eine Machtposition bzw. Vorteilsposition zu erlangen oder zu bewahren. Erhebliche Nachteile von dadurch betroffenen Menschen werden billigend in Kauf genommen.
Es kann durchaus Überschneidungen zur unbewussten strategischen Lüge (Vgl. oben No.19) geben, wenn nämlich auf die unbewusste strategische Lüge noch bewusste strategische Lügen oben draufgesattelt werden. (Das Thema steht in direkter Verwandtschaft zu No.30 Verdrehen der Schuld)
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Unwahre Tatsachenbehauptung: Eine Behauptung gilt dann als falsch, wenn sie objektiv nicht wahr ist. Wenn also beispielsweise jemand behauptet, ein anderer hätte eine bestimmte Sache getan und dies tatsächlich nicht stimmt, so ist die Behauptung falsch. Wenn die Behauptung nicht durch Fakten belegt werden kann, so handelt es sich lediglich um eine (haltlose) Verdächtigung oder eine Unterstellung und kann somit nicht akzeptiert werden. Wenn eine Behauptung durch Fakten widerlegt werden kann, so ist sie offenbar falsch.
1.Beispiel
<Leon Wurmser (1999) machte auf das
Problem der institutionellen Verankerung der bewussten Lüge
aufmerksam. Als Beispiele nennt er Krankenhäuser, Universitäten sowie Politik und Wirtschaft. Er habe viele Patienten, bei denen das Lügen eine Gewohnheit sei, die erst in der Psychotherapie fragwürdig und dann zu einem gewichtigen Gewissensdilemma werde. Er selbst habe kaum je in einer Institution gearbeitet, wo das Lügen nicht zu einem Hauptinstrument der Macht, der Administration, geworden sei und die Weigerung daran teilzunehmen als Schwäche oder gar als Verrat behandelt worden wäre. Gewöhnlich werde nicht bedacht, dass kein Vertrauen in einer Gesellschaft möglich sei, in der Täuschung und Lügen geduldet, ja gepriesen werde und sich ein Abgrund des Misstrauens, ein paranoider Stil öffne, wenn das Ausmaß der Unwahrheit eine gewisse Schwelle überschreite.>
(Zitat aus dem Wikipedia-Artikel ‘Lüge‘, darin der Abschnitt „Psychiatrisch-Psychotherapeutische Unterscheidungen“ (2011)).
Diese Ansicht findet eine indirekte Bestätigung darin, dass die Jury des ‚Dortmunder Vereins Deutsche Sprache‘ folgende Überschrift aus der Berliner Tageszeitung „taz“ auf Platz eins (2011) der ausgewählten Schlagzeilen setzte: „Brüderle bei Ehrlichkeit ertappt“. Dazu berichtet der Gießener Anzeiger am 26.11.11, Seite 3, als dpa-Meldung: <Die Zeitung habe die Schlitzohrigkeit des FDP-Politikers Rainer Brüderle auf den Punkt gebracht, hieß es am Freitag in einer Erklärung. Brüderle soll im März vor Wirtschaftsführern gesagt haben, die vorläufige Abschaltung aller Atomkraftwerke sei vor allem den anstehenden Landtagswahlen geschuldet.>
2.Beispiel
Die PR-Agentur Hill & Knowlton
<hatte auch im Auftrag der kuweitischen Herrscher Nachrichten gemacht: Um die Kriegsstimmung der amerikanischen Bürger anzuheizen setzte die Agentur die (inszenierte!) Meldung vom Babymord durch irakische Invasoren in die Welt.> Das also war die ‘Brutkastenlüge’ als Kriegs-Propagandatrick..
(aus: Der Spiegel, 52/1992, Seite 121 in dem Artikel „Die Reklame-Republik“).
Vgl. auch grundsätzlich das Thema „Kriegspropaganda“. Vgl. weiterhin das Spiegel-Interview mit Stauber von „PR-Watch“ generell zur PR-Industrie in den USA „Saubere Namen für dreckige Zwecke“ vom 11.05.2007: Spiegel Online.
3.Beispiel
Ein klassisches Beispiel für bewusste Geschichtsfälschung
ist die päpstlich getürkte ‚Konstantinische Schenkung‘. Dazu die Wikipedia: <Die Konstantinische Schenkung (lateinisch Constitutum Constantini bzw. Donatio Constantini ad Silvestrem I papam) ist eine um das Jahr 800 gefälschte Urkunde, die angeblich in den Jahren 315/317 vom römischen Kaiser Konstantin I. ausgestellt wurde. Darin wird Papst Silvester I. und seinen sämtlichen Nachfolgern eine auf das Geistliche hingeordnete, aber auch politisch wirksame Oberherrschaft über Rom, Italien und die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs geschenkt. Die Päpste nutzten die Urkunde, um ihre Vormacht in der Christenheit und territoriale Ansprüche zu begründen.> Weitere Einzelheiten siehe Wikipedia.
4. Beispiel
Peter Scholl-Latour bringt zwei weitere Beispiele bzgl.
US-Propaganda, zunächst bzgl. Irakkrieg 2003 und als weiteres eines zum Vietnamkrieg 1964,
bei dem Amerikas direkter Kriegseintritt 1964 gerechtfertigt werden sollte:
<Nicht nur der Irakkrieg wurde mit verlogenen Argumenten und Fälschungen vom Zaun gebrochen. Die irreführenden Äußerungen Colin Powells, des bislang hochgeachteten US Secretary of State, im Weltsicherheitsrat, als er die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins auflistete, sind noch in aller Gedächtnis, ebenso die absurde Behauptung Tony Blairs, der Irak sei in der Lage, binnen 45 Minuten ein nukleares Inferno zu entfesseln.
In Südostasien wurde 40 Jahre zuvor nicht weniger schamlos getrickst. Es war im Juli 1964. Laut Meldung der US Navy waren amerikanische Zerstörer auf offener See von nordvietnamesischen Schnellbooten angegriffen worden, hieß es damals. Darauf stützte sich Präsident Johnson, um die Bombardierung Nordvietnams anzuordnen. Die massive Landung von Bodentruppen folgte ein knappes Jahr später. In Wirklichkeit hatte sich 1964 alles ganz anders zugetragen, wie die 1971 veröffentlichten „Pentagon Papers“ eindeutig enthüllen sollten. Der US Destroyer „Maddox“ mit modernstem Abhör- und Spionage-Equipment versehen, kreuzte schon seit Wochen in den nordvietnamesischen Hoheitsgewässern. Als Reaktion auf die militärische Unterstützung, die der Vietcong seit 1960 aus Hanoi erhielt, war Saigon dazu übergegangen, mit Hilfe amerikanischer Kriegsschiffe Sabotagekommandos von Rangern und Infiltranten an der Küste abzusetzen.
Zwei US-Zerstörer, „Maddox“ und „Turner Joy“, befanden sich zur Zeit des Tonking-Golf-Zwischenfalls in unmittelbarer Küstennähe, und eine nennenswerte Gegenwehr der kümmerlichen Kriegsmarine Nordvietnams kam überhaupt nicht in Frage. Das hinderte den US-Congress jedoch in keiner Weise, am 10. August 1964 eine Resolution zu verabschieden, die Lyndon B. Johnson den Blankoscheck zur Entfesselung des Krieges ausstellte.>
Aus: Peter Scholl-Latour: Koloss auf tönernen Füssen. Amerikas Spagat zwischen Nordkorea und Irak. Ullstein Berlin, 2006, S.278.
_______________________________________
No. 30 - Verdrehen der Schuld
_______________________________________
Bedeutung (‚für sich‘)
Der Gegenseite soll die Schuld zugeschoben werden, um die eigene Schuld zu leugnen.
Haltlosigkeit (‚an sich‘)
Entstellung der Wirklichkeit zu Ungunsten der Gegenseite. Die Objektivität der Darstellung wird durch Verdrehen relevanter Tatsachen des Sachverhaltes verhindert.
1.Beispiel
Inszenierung des Überfalls angeblich polnischer Aufständischer auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31.August 1939.
Das war am Abend vor dem deutschen Kriegsbeginn gegen Polen. Der ‚Völkische Beobachter‘ schrieb am nächsten Tag, dem Tag des Kriegsstarts, unter der Überschrift „Der unerhörte Bandenüberfall auf den Sender Gleiwitz“, dass sich „die polnische Meute“ dazu habe „hinreißen lassen, die Reichsgrenze zu überschreiten, einen deutschen Sender zu überfallen, und die Kriegsfackel an ein Pulverfass zu legen, dessen Existenz vor der Geschichte die Polen einmal zu verantworten haben werden.“ (Siehe Wikipedia). Gemeint ist bei diesem Propagandatrick offenbar, dass nicht die Deutschen den Krieg gegen Polen zu verantworten haben, sondern die Polen schuld sind am Kriegsausbruch.
[Anmerkung: Diese Thematik der Frage, wer schuld ist am Kriegsausbruch findet sich auch bei No.18, Beispiel 3 sowie No.09, Beispiel 2 (Hitlers Rechtfertigung für Krieg mit England). No.04, Beispiel 1 (Hitlers Rechtfertigung für Krieg mit Rußland). No.29, Beispiel 4 (Rechtfertigung der USA für Krieg in Vietnam und Krieg im Irak). Vgl. auch generell das Thema Prinzipien der Kriegspropaganda.]
2.Beispiel
Das Hauptargument der Koalition von SPD und Grünen in Gießen gegen die
Nicht-Zulassung eines Bürgerbegehrens ab Mitte Februar 2012 gegen die Baumfällungen und Neuverschuldung wg. der geplanten Landesgartenschau 2014 in Gießen
beruhte auf der Ansicht, dass der Zeitpunkt eines solchen Bürgerbegehrens viel zu spät sei. Die Bürgerinitiative hätte Zeit genug vorher gehabt, die Pläne wären öffentlich gewesen. Die Bäume müssten noch jetzt im Februar gefällt werden, um die Landesgartenschau nicht auszubremsen. Der Zeitpunkt für ein Bürgerbegehren hätte mindestens ½ Jahr früher sein müssen. Das „Linke Bündnis“ nahm dazu folgendermaßen Stellung: <„Damit wird…den Kritikern und Gegnern die Verantwortung für den Verlauf der Auseinandersetzung und Terminierung des Bürgerbegehrens zugeschoben.“ … „Erst zum Schluss – nämlich im Oktober – wurde“, so der Stadtverordnete des Linken Bündnisses, Michael Janitzki, „der Umfang der geplanten Eingriffe mit 360 Baumfällungen und weiteren Rodungen in der Wieseckaue durch einen Zufall bekannt, nicht durch eine offizielle Information. Die Bürger wurden im November über die Fällungen informiert. Die zusätzlichen Schulden von 17,4 Millionen Euro nur für die Landesgartenschau standen erst im Dezember fest. In dieser Situation gründete sich die BI und arbeitete schon in der ersten Sitzung auf ein Bürgerbegehren hin.> (Aus: Artikel im Gießener Anzeiger vom 08.02.12, Seite 14, mit der Überschrift: „Den Terminplan bestimmt die Koalition“). Die Kritik an der Gartenschau entzündete sich eigentlich erst durch das Wissen um die geplanten Baumfällungen und gleich darauf unternommene (sinnlose) Baumfällungen auf Anordnung der Grünen Bürgermeisterin, die gleichzeitig Dezernentin für die Gartenschau ist. Das erste größere Treffen der Kritiker war am 24.November, an der auch BUND und Nabu teilnahmen. Von November bis Februar gab es rege Leserbriefstimmen im Gießener Anzeiger (vermutlich auch in der Gießener Allgemeinen) und viele Zeitungsartikel speziell bzgl. Wieseckaue aber auch allgemein bzgl. Gartenschau. Am Samstag 14. Januar startete die Unterschriftenaktion für das Volksbegehren an einem Stand im Seltersweg, der Hauptgeschäftsstraße Gießens. Es wurden 645 Unterschriften an diesem ersten Tag erteilt. Am 23.Januar wurden 2012 Unterschriften übergeben. Insgesamt waren rund 2900 Unterschriften nötig (5 % der Wahlberechtigten), um das Bürgerbegehren zu ermöglichen. Die letzten Unterschriftenlisten wurden am 6. Februar (nach einer ungewöhnlich langen Phase sibirischer Eiseskälte) übergeben. Am 10.Februar wurde jedoch die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens mit großer Mehrheit seitens der Abgeordneten des Stadtparlaments abgelehnt.
3.Beispiel
Der ‚Usurpatorkomplex‘: ein Begriff von Adorno
in seinen ‚Studien zum autoritären Charakter‘. Er exemplifizierte die Relevanz dieses Begriffs am Beispiel des US-Präsidenten Theodor Roosevelt: Trotz seiner enormen Leistungen für die Wohlfahrt der verarmten US-amerikanischen Bevölkerung durch die Wirtschaftskrise seit 1929 wurde ihm von Seiten autoritärer, konservativer Amerikaner der Vorwurf der Inkompetenz gemacht. Er habe sich sozusagen ungerechtfertigterweise, also illegitim um Macht bemüht, dass er, obwohl unfähig, machtbesessen sei. Er habe also versucht, Macht zu usurpieren, die ihm eigentlich aufgrund seiner angeblichen Inkompetenz gar nicht zustehe. Jemand, der diese Art Vorwürfe produziert, besitzt nach Adorno einen „Usurpatorkomplex“. Statt Roosevelt also Anerkennung für seinen ‚New Deal‘ zu zollen, wurden ihm von Seiten derjenigen Kräfte, die das soziale Problem massenhafter Verelendung nicht lösen wollten, noch massive Schuldvorwürfe gemacht.
4.Beispiel
Double-Bind-Kommunikation
(siehe Näheres unter dem Thema „Gebertakt überspringen“): In solch einer antinomischen Beziehungsfalle ist das Opfer in jedem Falle schuldig. Einerseits, wenn es auf einer Metaebene die Paradoxie der Sache durchschaut, und sich nicht drauf einlässt, wodurch es sich angeblich schuldig macht an der Zerstörung der Beziehung; andererseits wenn sich das Opfer vertrauensvoll einlässt, da es dann etwas erwartet, was ihm jedoch verweigert wird, weil es IHM ja nicht zusteht, wodurch WIEDERUM das Opfer schuldig ist. Der Täter bzw. die Täterin steht in jedem Falle (äußerlich, formell) gut da, wiewohl – objektiv betrachtet – das Gegenteil der Fall ist.
|